Es ist ein guter Sommer auf der Segantinihütte. Die vielen Sonnentage ziehen zahlreiche Gäste an, und ich habe als Hüttenbub anstrengende Tage hinter mir. Oft sind die Arbeitstage am Berg viel länger als während meinen Bürojobs unten im Tal. Trotzdem fühle ich mich nie wirklich gestresst sondern stets entspannt – höhenentspannt könnte man sagen.
Das mag daran liegen, dass ich „den schönsten Arbeitsplatz im Engadin“ habe, wie mir Gäste immer wieder etwas neidvoll sagen. Doch der schöne Ausblick allein macht noch nicht entspannt. Der wahre Grund ist, dass es am Berg viel weniger Stressquellen hat als im Tal.
Zum Beispiel haben wir auf der Segantinihütte nur einen kleinen Handspiegel zur Verfügung. Dieser liegt zuoberst auf einem Gestell in der Küche und ist meist ziemlich angelaufen vom vielen Gerstensuppen und Spiegelei kochen. Um kurz zu kontrollieren, ob keine Sonnencremeresten an der Nasenseite kleben, reicht er aus. Oft schaue ich tagelang gar nicht in den Spiegel, sondern verlasse mich auf meine Chefs, die mir sagen, wenn etwas an meinem Äusseren nicht passt, um vor die Gäste zu treten.
Nach einer Woche arbeiten und schlafen am Berg fallen mir die vielen Spiegel im Tal richtig auf. Plötzlich sind sie allgegenwärtig und so gross. Auf jeder Toilette begrüsst mich ein riesiges Ebenbild. Und auch Zuhause hängt ein Ganzkörperspiegel. Und schon erwische ich mich, wie ich mich im Detail betrachte. Sind die grauen Barthaare mehr geworden? Habe ich auf der Hütte abgenommen? Waren die Zähne vor einer Woche auch schon so gelblich?
Der Spiegel ist der Ursprung aller Eitelkeiten und jeden Morgen der erste Grund, um sich mit anderen zu vergleichen. Der daraus folgende Zwang sich ständig zu optimieren, ist vielleicht die unnötigste Stressquelle unserer modernen Gesellschaft. Immer schöner, stärker, makelloser. Was bringt uns das ausser viel Stress? Es ist ein Teufelskreis, der vom rein Äußeren weiter greift zu Besitztümern und Errungenschaften, die andere haben und du nicht. Und so gesellen sich Neid und Missgunst zur liebgewordenen Eitelkeit.
Weniger in den Spiegel zu schauen, kann eine echte Abhilfe sein. Und es ist erst noch viel günstiger als Antistress-Kurse, Yoga oder Floating im Salzwassertank.
Dass Eitelkeiten und Mobilität in unserer Gesellschaft stetig zunehmen, ist keine neue Erkenntnis. Aber diesen Sommer wurde mir bewusst, was für ungesunde Konsequenzen ein überoptimierter Lebensstil haben kann.
Zum Glück gibt es auch Gegentrends. Wandern zum Beispiel. Ich bin echt erstaunt, wie viele Hipster die Segantinihütte besuchen. Tief keuchend aber mit teuren Handtaschen und glatt gebügelten Hemden treten sie in die Hütte: „Zwei Cappuccini und ein Latte Macchiato, bitte!“ – „Sorry, wir haben nur Nescafe, dafür den besten der Welt.“ Und manchmal merken auch sie: Es ist besser, wenn die Eitelkeiten im Tal bleiben.
Franco Furger
Franco Furger ist in Pontresina aufgewachsen und hat am Lyceum Alpinum Zuoz die Matura absolviert. Danach tourte er als Profi-Snowboarder um die Welt und liess sich zum Journalisten ausbilden. Er arbeitete als Medienkoordinator bei Swiss Ski, Redaktor bei der Engadiner Post und World Cup Organisator bei der Corvatsch AG. Im Sommer 2017 bloggte Franco über seine Erlebnisse als «Chamanna Segantini-Hüttenbub». Die Liebe führte ihn dann in die Stadt Luzern, wo er die Sonne und die Bündner Berge vermisste. Nun lebt er als freischaffender Texter mit Frau und Sohn in Laax.
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