Viele Schweizer sind schon wegen halb vollen Zügen ganz genervt. (Ruth Bossart)
Ich würde lügen, wenn ich sage, dass es mir egal ist, in überfüllten Zügen und Bussen zu reisen. Ich liebe es, mich alleine in einem Viererabteil auszubreiten. Doch wenn immer mehr Personen in den Eisenbahnwagen drängen, räume ich selbstverständlich Rucksack und Jacke weg und mache Platz.
In der Türkei kommt es oft vor, dass viel mehr Passagiere in einen Zug, auf ein Schiff oder in einen Bus gepackt werden. Vor allem zu Stosszeiten. Die Schiffe auf dem Bosporus, die zu den Prinzessinneninseln vor Istanbul fahren, sind beispielsweise chronisch überbelegt. Das Boot sammelt an drei Stationen in Istanbul Leute ein.
Wer erst in Kadiköy dazukommt, der letzten Anlegestelle, steigt meist bereits in ein heillos überfülltes Boot ein. Es ist aber selbstverständlich, dass allen Grauhaarigen von jüngeren Menschen einen Sitzplatz angeboten wird. Auch Schwangere dürfen sich setzen und Babys. Die nimmt jede und jeder gerne in Empfang und auf den Schoss. Man bedankt sich für den angebotenen Platz, erkundigt sich nach dem Geburtstermin und ein Säugling oder Kleinkind auf Zeit ist sowieso die ultimative Unterhaltung. Da wird gescherzt, geherzt und gelacht, um die Essenszeit herum sogar das Picknick geteilt. Es gibt kaum einen Anflug von Misepeter-Stimmung. Warum auch? Alle werden ihr Ziel erreichen.
Dass das Reiseverhalten kulturell geprägt ist, dürfte eine Binsenwahrheit sein. Amerikaner und Deutsche sind laut, Japaner höflich und diskret, Chinesen brauchen oft ihre Ellenbogen. Und die Schweizer? Die scheinen oftmals unzufrieden, wenn sie unterwegs sind. Einige richtig übellaunig und sogar aggressiv.
Kürzlich toppte aber ein Mitreisender alle meine bisherigen Erfahrungen: Mein Sohn und ich suchten einen Sitzplatz. Ein mittelalterlicher Herr mit einem Köfferchen machte tiefatmend etwas Platz, behielt aber seinen Trolly festumklammert im Abteil.
Wir konnten unsere Beine kaum einfädeln. Als ich ihn fragte, ob ich in Fahrtrichtung sitzen dürfte und er darum seine Freitagstasche wegnehmen musste, platze ihm der Kragen. Wutschnaubend stand er auf, packte sein Köfferchen und die Tasche, verliess das Abteil und schimpfte lauthals: «Diese verdammte Überbevölkerung.»
Ein paar Sekunden war es mucksmäuschenstill im ganzen Wagon. Dann begann ein altes Ehepaar aus vollem Hals zu lachen. Ihr Lachen war so ansteckend, dass plötzlich der halbe Wagen einstimmte. Und plötzlich sprach das alte Ehepaar mit dem Jugendlichen vis à vis, der sich seiner Kopfhörer entledigt hatte. Eine mittelalterliche Frau redete mit einem Touristen und erklärte ihm auf Englisch, was passiert war. Kurz: auf einen Schlag herrschte eine aufgeräumte Stimmung im ganzen Wagen.
Plötzlich kam ich mir vor, als wäre ich auf der Fähre zu den Prizessinneninseln vor Istanbul.
Ruth Bossart
Ruth Bossart ist Historikerin und lebt mit ihrem Mann und Sohn Samuel seit diesem Frühjahr in Bern. Zuvor berichtete sie für das Schweizer Fernsehen aus Indien. Laufen, Ski- und Velofahren gelernt hat Samuel in Pontresina und Zuoz, bevor die Familie 2010 nach Singapur und später in die Türkei zog. Jedes Jahr verbringen die Drei aber immer noch mehrere Wochen im Engadin – nun nicht mehr als Einheimische, sondern als Touristen.
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