Neulich war ich im Unterland. Und es traf mich der Schock. Der Dichtestress und das Dauergehetze waren es nicht. Und auch die mittlerweile vorherrschende Gattung der Smombies nicht. Smombies, das sind eigenartige Mischwesen aus Smartphone und Zombie, die Menschen so behandeln wie eine Strassenlaterne oder Reklametafel, nämlich mit konstantem Ignorieren im unbewegten Zustand oder mit abrupten Ausweichmanövern im bewegten Zustand. Zusammenstösse mit folgenschweren Verletzungen werden dank intelligenten Apps verhindert, die den Smombies den Weg durch die Strassen weisen. Über ihre Kopfhörer werden sie mit Stromschlägen gezielt manipuliert, damit sie schadlos ihr Ziel erreichen. Leider ist die Technologie noch nicht ganz ausgereift und es passieren ab und zu Unfälle, da zum Beispiel die Systemkompatibilität mit den sich autonom steuernden Tesla-Kebab-Buden nicht immer gegeben ist. Die gefährlichen Smombies schockierten mich keineswegs und auch die vielen Einkaufszentren, Läden und veganen Essgelegenheiten nicht, die mir unentwegt zuriefen: Iss mich! Kauf mich! Konsumier mich! Ich staune nur immer wieder, wie all die vielen Lädelis und Spezialitätengeschäfte in den versteckten und abgelegenen Seitengassen existieren können. Meine Theorie ist, dass die Schaufenster nur Tarnung sind und sich im Keller Drogenlabors oder andere illegale Einrichtungen befinden. Vielleicht sind es auch ganz legale Zentralen von Google, Facebook und Amazon, die mit Minikameras und Sendern die Städte überwachen und Daten von den Smombies absaugen, um ihnen dann Push-Nachrichten auf ihre Smartphones zu senden, damit sie während dem Shoppen auch noch schnell etwas online einkaufen. Oder die liebevoll eingerichteten Schaufenster entlang der Gassen sind einfach nur eine nostalgische Kulisse für Touristen wie mich, finanziert von der Stadtverwaltung. Das frage ich mich übrigens auch, wenn ich durch die Via Serlas in St. Moritz laufe: Sind die Edelboutiquen wirklich eine tourismusfördernde Fassade oder sind sie vor allem Steueroptimierungsgeschäfte? Nein, es war nicht das eifrige Stadtleben, das mich schockierte; der Schock setzte schon viel früher ein: nämlich kurz nach Thusis. Plötzlich sehe ich Wiesen. Grüne Wiesen. Wiesen, auf denen Blumen blühen. Ich traue meinen Augen nicht. Grüne Wiesen! Wo gibt es denn sowas?! Es ist doch erst Anfang April, also noch mitten im Winter. Bin ich der einzige im Zugabteil, der diesen Schock erlitten hat? Ja, denn die anderen Reisenden blättern unaufgeregt in ihren Zeitschriften weiter. Ich aber drücke meine Nase an die Scheibe und bin fasziniert von der ungewohnt grünen Landschaft, die an mir vorbeizieht. Und mir wird bewusst, dass ich im Engadin in einer total anderen Welt lebe. In einer Welt, wo Schnee und Eis vorherrschen. Wo die Berghänge bis in den Juni hinein weiss glänzen. Wo es acht Monate lang Winter und vier Monate lang kalt ist. Eine Welt, die ich mag. „Ist es nicht schön, dass der Frühling kommt?“, holt mich die ältere Dame nebenan aus meinen Gedanken. „Ja“, antworte ich etwas verwirrt und denke mir: Frühling? Diese Jahreszeit kenne ich irgendwie nicht. Aber ich schätze es, wenn ich auf Skitouren keine langen Unterhosen mehr tragen muss.
Franco Furger
Franco Furger ist in Pontresina aufgewachsen und hat am Lyceum Alpinum Zuoz die Matura absolviert. Danach tourte er als Profi-Snowboarder um die Welt und liess sich zum Journalisten ausbilden. Er arbeitete als Medienkoordinator bei Swiss Ski, Redaktor bei der Engadiner Post und World Cup Organisator bei der Corvatsch AG. Im Sommer 2017 bloggte Franco über seine Erlebnisse als «Chamanna Segantini-Hüttenbub». Die Liebe führte ihn dann in die Stadt Luzern, wo er die Sonne und die Bündner Berge vermisste. Nun lebt er als freischaffender Texter mit Frau und Sohn in Laax.
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