Wie die dreijährige Lulu, das Leben unserer Bloggerin Romana Ganzoni auf den Kopf stellt. Foto: Romana Ganzoni
In Indien ist vieles eine Frage der Perspektive – sogar Exkremente sind nicht einfach wertlos. Und Umweltverschmutzung kann göttlich sein.
Wir nennen sie Berta. Obwohl wir wissen, dass sie mit Bestimmtheit so nicht heisst. Berta ist eine Kuh und wohnt ganz in der Nähe von uns, mitten in der Millionenstadt Mumbai. Wir sehen Berta praktisch jeden Tag auf dem Weg zur Schule. Mit einem Strick um den Hals kaut sie, vor einem Tempel auf dem Asphalt liegend, ihre Gräser wieder. Gräser? Gräser! Ihre Besitzerin sitzt neben Berta, ebenfalls auf dem nackten Asphalt und bietet Grasbündel feil, welche die Passanten für umgerechnet ein paar Rappen kaufen und dann der Kuh hinwerfen. Dabei bekommt Berta auch noch ein paar Streicheleinheiten. Manchmal füttern die Frauen und Männer auf ihrem Weg ins Büro Berta auch einen Brei aus Korn und Wasser. Das bringt Glück und Segen.
Berta ist eine von zig Millionen von Kühen in Indien. Und Berta ist heilig. Wie alle Kühe. Sie gibt Milch, Dung für das Feuern und den Häuserbau. Sogar ihr Urin ist heilsbringend. Die Kuhpisse wird auch als Getränk angeboten: Gau Jal, heisst ein Softdrink aus Kuhurin, Kräutern und weiteren Zutaten und wird auf Amazon verkauft. Die Kuh soll die Mutter des Universums sein – das glauben die Hindus. Und wer ein solches Vieh füttert, anbetet oder seinen Urin trinkt, verehrt damit auch Gott Krishna.
Die Hindus feiern viele Götter – und vor allem feiern sie gerne ausführlich: Kürzlich war Ganesha, der Gott mit dem Elefantenrüssel, dran. Er ist einer der populärsten in Mumbai. Tagelang wurde getrommelt, mit lautem Singsang gebetet und gefeiert. Praktisch jedes Haus baute einen prächtigen Schrein. In unserem Haus leerte der Hauswart seinen Geräteschuppen, um für die Gottesfigur und die Opfergaben Platz zu machen. Es wurden Räucherstäbchen gezündet und nach einigen Tagen begleitet eine fröhlich-laute Prozession die ganze Installation zum Meer. Der Gott aus Plastik plus Holzgestell, Blumenvasen und Opfergaben wurden ins Wasser gekippt. Nicht nur unser. Tausendfach. Am letzten Tag der über einer Woche lang dauernden Festivalperiode versammelten sich Zehntausende am bekanntesten Strand von Mumbai: dem Chowpatty Beach. Wir haben das Spektakel aus der Ferne beobachtet. Hunderte von mannshohen Ganesha-Figuren schaukelten auf den Wellen.
Als ich am anderen Tag meinen Morgenlauf entlang dem Strand anfing, glaubte ich mich auf einem Schlachtfeld oder im Nachgang eines Wirbelsturms: Überall ragten Teile aus Holz aus dem Meer, dort ein überdimensionaler Götterarm aus Plastik, da ein Wagenrad. Ein Bagger stiess die Götterwracks weiter ins Meer hinein. Am Mittag war die Katastrophe etwas weniger sichtbar: Die Flut hat bereits viele Trümmer in den Ozean geschwemmt.
Im Treppenhaus warnte mich meine Nachbarin, ich solle in den nächsten vier, fünf Wochen keinen Fisch essen. Die Ganesha-Feierlichkeiten würden jedes Jahr ein Massenfischsterben auslösen. Die, welche überlebten, seien stark belastet. Vor allem von den Farben, mit denen die Ganesha-Götter bemalt sind.
Sie fand das alles wenig schlimm – es geschehe ja im Namen Gottes, so müssen man das sehen, sagte die pensionierte Akademikerin. Wirklich eine Frage der Perspektive also?
Nein, also wirklich!
Ruth Bossart
Ruth Bossart ist Historikerin und lebt mit ihrem Mann und Sohn Samuel seit diesem Frühjahr in Bern. Zuvor berichtete sie für das Schweizer Fernsehen aus Indien. Laufen, Ski- und Velofahren gelernt hat Samuel in Pontresina und Zuoz, bevor die Familie 2010 nach Singapur und später in die Türkei zog. Jedes Jahr verbringen die Drei aber immer noch mehrere Wochen im Engadin – nun nicht mehr als Einheimische, sondern als Touristen.
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