11.12.2018 Dominik Brülisauer 6 min
Bild: Dominik Brülisauer

Bild: Dominik Brülisauer

Wenn man im Engadin ein Restaurant, ein Hotel, eine Bar, eine Zahnarztpraxis, eine Baustelle, eine Weinhandlung oder sonst irgendein Geschäft besucht, trifft man auf einen Gastarbeiter. Das ist so sicher, wie man in einem Gitarrenladen jemanden begegnet, der versucht «Stairway to Heaven» zu spielen und sich dabei so vorkommt wie Moderator Jonas Projer am Freitagabend in der Arena. Das hat wohl damit zu tun, dass das Engadin in der Hochsaison überfüllter ist als jedes Fitnessstudio im Januar. In dieser Zeit fällt ganz einfach zu viel Arbeit an, als dass diese nur von den Einheimischen alleine erledigt werden könnte. Mit anderen Worten: Unserer Wirtschaft ist nicht nur von Gästen, sondern auch von Gastarbeitern abhängiger als die Islamistische Terrorindustrie von Sprengkandidaten. Meinen ersten bewussten Kontakt mit Gastarbeitern hatte ich als Zehnjähriger auf dem Fussballplatz in Pontresina. Der steht übrigens gleich neben dem Rosegbach. Die Idee, einen Fussballplatz direkt neben einen Bergbach zu stellen, ist ungefähr so schlau, wie eine Bioenergetische Meditationsoase neben einen Schiessstand. Der Ärger ist vorprogrammiert. Als Kinder haben wir dreiviertel unserer Zeit damit verbracht, dem Ufer des Baches entlang zu rennen und verzweifelt zu versuchen, unsere verschossenen Bälle den reissenden Fluten zu entreissen. Dass bei diesen Rettungsversuchen auch immer wieder Kinder in das eiskalte Gletscherwasser gefallen sind, versteht sich wohl von selbst. Glücklicherweise konnten wir die meisten von ihnen wieder in Trockene ziehen bevor sie ins Schwarze Meer gespült wurden. In den seltenen Momenten zwischen diesen Verfolgungsjagden spielten wir tatsächlich so etwas ähnliches wie Fussball. Das hiess, wir passten uns mehr oder weniger motiviert den Ball zu, lümmelten auf der Wiese rum und versuchten mindestens ein Tor pro Woche zu erzielen. Aber Hauptsache, wir waren ein wenig an der frischen Luft. Aber da die FIFA blöderweise damals schon der ganzen Welt erzählte, dass Fussball mehr zur Völkerverbindung beiträgt als Bier und Bettsport zusammengezählt, ist immer wieder mal ein Spanier, Portugiese oder Jugoslawe auf unserem Fussballplatz aufgetaucht und wollte mit uns mitkicken. Das wäre ja auch voll okay gewesen, wenn nicht jeweils der schlechteste Ausländer auf dem Platz zehn Mal besser gespielt hätte als der beste Pontresiner. Gastarbeiter machten aus unserem ambitionslosen Spielspass immer sehr schnell tödlichen Spielernst. Plötzlich musste man sich während dem Match bewegen, sich anbieten, den Strafraum verteidigen, angreifen, dribbeln, unter keinen Umständen den Ball verlieren und das Spiel auf jeden Fall gewinnen. Dank den Gastarbeitern wurden wir mit der Zeit immer besser und unsere Schüsse landeten vermehrt tatsächlich im Tor anstatt im Bergbach. Zu dieser Zeit habe ich begonnen, über Gastarbeiter nachzudenken. Ich empfand den Terminus «Gastarbeiter» als ein Oxymoron. Ein Oxymoron ist eine rhetorische Figur, bei der eine Formulierung aus sich widersprechenden Begriffen gebildet wird. Zu den bekanntesten gehören «alter Knabe», «stummer Schrei», «gestresster Bademeister», «sympathischer PNOS-Anhänger» oder «anspruchsvoller Helene-Fischer-Fan». Die Worte Gast und Arbeiter haben sich für mich jedenfalls auch gegenseitig ausgeschlossen. Seine Gäste lässt man doch nicht arbeiten? Das ist vergleichbar mit Hochzeitsfeiern, in denen das Brautpaar seine Freunde und Familie dazu nötigt, morgens um fünf noch den Festsaal aufzuräumen und sich wundert, dass sich die Leute bereits um Mitternacht diskret in ihre Hotelzimmer verabschieden, um dort ihre eigene Party zu feiern. Gastarbeiter hat es bestimmt schon immer gegeben. Wenn es in der Steinzeit in einer Höhle viel zu tun gab, sind die Höhlenmenschen einer anderen Höhle aushelfen gekommen – auch wenn sie nur schwarz das Gekritzel von Steinzeitjunior von den Höhlenwänden putzen mussten. Und wenn es in der Neuzeit mal in einer Region an billigen Arbeitskräften gemangelt hatte, dann hat man sie ganz einfach in Afrika rekrutiert und sie mit guten Argumenten wie Schwert, Feuerwaffen und Peitschen dazu überredet, mal ein paar Auslandjahre in Amerika einzulegen. Damals bekam man sogar in Nordamerika ganz unbürokratisch eine Arbeitsbewilligung, ohne dass man zuerst in einer Lotterie eine Greencard gewinnen musste.  Das Konzept der Gastarbeiter hat im Engadin eine lange Tradition. Arbeitskräfte aus Italien haben zwischen 1906 und 1910 für einen Tagesslohn von fünf Franken für uns die Eisenbahnstrecke über den Berninapass gebaut. Sie kamen dabei so schnell vorwärts, dass man dem Bernina-Express heute noch Bernina-Express sagt, obwohl die Rhätische Bahn langsamer vorwärtskommt als der Friedensprozess im Nahen Osten. Wer den Bernina-Express Bernina-Express nennt, der nennt auch Schach eine Actionsportart, die Lieder von Peter Reber Speed-Metal und den Kundenservice der Swisscom schnell und effizient. Die Italienischen Gastarbeiter haben uns nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch noch Pizza, Spaghetti und Braulio mitgebracht. Und für das muss man sie einfach lieben. Wir mögen sie so gut, dass jeder Engadiner gerne Italienisch lernt, um sich mit ihnen unterhalten zu können. Wir haben uns ja schliesslich damit abgefunden, dass Italiener, die eine Fremdsprache lernen, seltener vorkommen als sibirische Tiger oder Facebookposts von jungen Müttern, die nicht ihr Baby zum Thema haben. Wir nehmen es den Italienern nicht übel. Die Deutschen haben es da ein wenig schwerer. Die sprechen zwar Deutsch, aber denen werfen wir dafür vor, dass sie kein Romanisch draufhaben. Es gibt einen guten Grund, warum man auf unsere Deutschen Gastarbeiter vor allem im Service-Bereich trifft. Die Deutschen Touristen sind ja dafür bekannt, dass sie für Schweizer Ohren äusserst unfreundlich ihre Bestellungen aufgeben. Das teutonisch knappe «Ich kriege Fritten» klingt einfach von Natur aus unhöflicher als das warme Schweizerische «Grüezi wohl, wänn Si kurz Zit hättend für mi, würdi gern an Teller Pommes Frittes bschtella, wenns nid zviel Müah macht. Merci viel viel mol». Damit es an den Theken, Tresen und Tischen keine Konflikte gibt, haben wir den Service den Deutschen überlassen. Die Deutschen Gäste müssen sich jetzt nicht mehr mit unnötigem Ballast wie nette Umgangsformen herumschlagen und kriegen ihre Bestellungen vom eigenen Landsmann wortlos auf den Tisch geknallt. Aber vielleicht ist es ja gar nicht mal so wichtig, dass man die Sprache seines Gastlandes beherrscht, wenn man seinen Job sonst gut erledigt. Bestes Beispiel dafür ist der wohl berühmteste Gastarbeiter der Welt: Arnold Schwarzenegger. Der lebt mittlerweile seit 50 Jahren in den USA. Dort feierte er spektakuläre Erfolge als Bodybuilder, Schauspieler und Politiker, ohne dass er jemals ein einziges englisches Wort korrekt ausgesprochen hätte. Der momentan berühmteste Gastarbeiter im Engadin stammt ebenfalls aus Österreich. Gerhard Walther sorgt als Tourismusdirektor dafür, dass Engadin St. Moritz auch in Zukunft eine Top-Marke wie Ferrari, Scarlett Johansson oder New-York-Times bleibt und nicht in die Liga von Opel Manta, Jennifer Lopez oder 20 Minuten abrutscht.

Dominik Brülisauer

Dominik Brülisauer ist 1977 geboren und in Pontresina aufgewachsen. An der ZHDK in Zürich hat er Theorie für Kunst, Medien und Design studiert. Momentan arbeitet er als Werbetexter, Kolumnist und Schriftsteller in Zürich. Die Bücher «Schallwellenreiter», «Der wahre Liebeslebensratgeber» und «Leben kann jeder» sind im Handel erhältlich. Er besucht das Engadin heute noch regelmässig um im Pöstli Bier zu trinken, auf der Diavolezza zu Snowboarden und um seiner Mutter seine Wäsche abzugeben.
facebook.com/dominikbruelisauer