Was romantisch aussieht, ist höchst giftig: Trotz hohen Schadstoffwerten wird am Marine Drive munter marschiert.
Der Marine Drive in Mumbai ist so etwas wie der Seerundgang in St. Moritz: Eine Promenade - beliebt und viel begangen. Doch damit ist der Vergleich schon fertig. Die Strasse entlang dem Drive ist sechsspurig, der Gehweg zwar breit und Asphalt mit vielen Schlupflöchern für Ratten, die Luft staubig und häufig liegt die Luftbelastung ein Mehrfaches über den Grenzwerten der Weltgesundheitsorganisation.
Dennoch wird geturnt, gejoggt, Yoga gemacht, meditiert, spaziert und gedehnt. Besonders beliebt sind die Nachtstunden, denn dann gibt es weniger Verkehr, die Temperaturen sind tiefer und die Luftverschmutzungswerte ebenfalls.
Platz ist rar in Mumbai, der 22-Millionen-Stadt auf einer Halbinsel. Viele Schulen haben keinen Quadratmeter übrig für eine Turnhalle. Wenn die Schülerinnen und Schüler Glück haben, bringt sie ihr Schulbus einmal im Monat an den Marine Drive zum Joggen oder Spazieren. Oder zum nahen Chowpatty Beach. Dort wird dann auf improvisierte Fussballtore gezielt oder ein Kricketmatch veranstaltet. Kürzlich beobachtete ich Mädchen, die zwischen Fischerbooten und angeschwemmtem Abfall Speere warfen.
Eine Alternative, sich sportlich zu ertüchtigen, gibt es für die Massen kaum. Nur die ganz wenigen Superreichen können sich ein Fitness-Abo in einem klimatisierten und mit Luftfiltern ausgerüsteten Studio leisten. Aber auch sie müssen sich einschränken: Anstehen vor den Fitnessgeräten ist eher die Regel als die Ausnahme.
Darum entscheiden sich auch viele Gutbetuchte, an den Marine Drive zu gehen, was einem kleinen Spektakel gleichkommt: Mehrere Leibwächter in ihren uniformen, dunkelblauen Tropenanzügen und schwarz polierten Halbschuhen, den Knopf im Ohr, wieseln hinter den meist übergewichtigen, schwerschwitzenden Herrschaften her. Vielfach folgt dem Umzug auf der nahen Strasse mindestens eine Limousine oder ein SUV im Schritttempo.
Mit dem Winter hier – das Thermometer fällt nie unter 20 Grad – gibt es am Morgen auch eine hübsche Brise und somit Grund, Surfbretter aus dem Sommerschlaf zu holen. Allerdings ist es ein zwiespältiges Vergnügen. Da Mumbai keine Kläranlage betreibt und viele Menschen auch keine Toilette haben, ist das Wasser in der Bucht von Mumbai eine graue Brühe, in die ich persönlich nicht einmal rein stehen würde, geschweige denn, vom Brett fallen möchte.
Übrigens: Ich gehöre auch zu dieser Karawane, die jeden morgen sechs Kilometer in der Giftglocke herumrennt – obwohl ich eigentlich weiss, dass es gesünder wäre, in der gefilterten Schlafzimmerluft im Bett zu liegen. Anders als die meisten Inder kann ich aber diese CO2 Hölle jederzeit verlassen.
Was romantisch aussieht, ist höchst giftig: Trotz hohen Schadstoffwerten wird am Marine Drive munter marschiert.
Ruth Bossart
Ruth Bossart ist Historikerin und lebt mit ihrem Mann und Sohn Samuel seit diesem Frühjahr in Bern. Zuvor berichtete sie für das Schweizer Fernsehen aus Indien. Laufen, Ski- und Velofahren gelernt hat Samuel in Pontresina und Zuoz, bevor die Familie 2010 nach Singapur und später in die Türkei zog. Jedes Jahr verbringen die Drei aber immer noch mehrere Wochen im Engadin – nun nicht mehr als Einheimische, sondern als Touristen.
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