Meine Tochter und ich sassen einander Ende Dezember in der Rhätischen Bahn auf den Fensterplätzen gegenüber, von Zürich herkommend fuhren wir nach Celerina. Wir plauderten, lachten, als in Bergün eine lebhafte Gruppe zustieg – warm angezogen, gute Schuhe, Helme. Sie würde an der nächsten Haltestelle, Preda, wieder aussteigen. Auf zum Schlittelplausch! Das kleine Abteil war bald voll.
Neben mir sass eine junge Frau, neben meiner Tochter ein junger Mann. Das Paar wirkte frisch verliebt. Seine Finger suchten die ihren ohne Unterlass, tätschelten, streichelten, spielten. Sie zog ihre von Zeit zu Zeit zurück, einmal abrupt, was eine Lücke ergab, die ihn auf sein Smartphone schauen liess. Er las eine Pushmeldung, erschrak, sagte aufgeregt zu seiner Freundin, es sei etwas ganz Furchtbares geschehen. In der Lenk habe heute ein Zusammenstoss zwischen einer Vierjährigen und einem Erwachsenen zum Tod des Kindes geführt. «Stell dir mal vor, wie schrecklich sich dieser Mann jetzt fühlt», sagte er betroffen in eine Sprechpause meiner Tochter und mir hinein.
Wir waren wie versteinert, versuchten zu verarbeiten, was wir da gehört hatten, starrten uns wortlos an. Da sagte die junge Frau neben mir mit fester Stimme: «Das war sicher die Schuld dieses Kindes. Scheiss-Kind!» Hatte sie das gesagt? Unmöglich. Ich musste sie falsch verstanden haben. Ich überlegte, was sie wohl stattdessen gesagt haben könnte, schaute zu meiner Tochter, die meinen Blick finster erwiderte. Da kam ich zum Schluss, dass die etwa 20-jährige Frau neben mir sehr wohl einem «Scheiss-Kind» die Schuld an diesem tödlichen Unfall gegeben hatte.
Was tun? Schweigen? Aushalten? Ich sah meine Tochter als vierjähriges Mädchen in ihrem roten Kleidchen, wie sie bei der Grossmutter Teig rührt, und ich dachte an die Eltern des toten Kindes. Zorn stieg in mir auf. Ich wollte nicht schweigen, obwohl ich wusste, ich würde einen Preis zahlen für eine Gegenrede. Empörung und Unverständnis würden aufgeschäumt und verstärkt. Die Angst, ein Verlust könnte mich treffen, würde getriggert. Die Scham, dass ich hier öffentlich Theater mache und unangenehm auffalle, wüchse. Vielleicht wäre das alles meiner Tochter peinlich, vielleicht entblösste ich mich vor den anderen Reisenden, letztlich vor mir selbst.
Ich sagte trotzdem zu der jungen Frau, sie sei herzlos, ohne jeden Anstand. Ob sie sich vorstellen könne, was diese Eltern jetzt durchmachen. Sie solle sich schämen. Ich wiederholte noch zwei Mal, sie solle sich schämen. Es tat mir weh, ich fühlte mich schlecht und unpassend. Die junge Frau reagierte trotzig, aggressiv, das gehe mich nichts an, ich habe sie nicht zu belauschen. Ich sagte: «Doch, das geht jeden etwas an. Ich habe nicht gelauscht, ich kann nicht verdrängen, was ich gehört habe, und ich bin empört.» Die Gruppe vis-à-vis, Mütter und Kinder, schwieg. Es gab keinen Support, weder für die junge Frau, noch für mich. Sie wollten damit nichts zu tun haben. Ich verstand das. Meine Tochter schwieg, aber ich wusste sie jederzeit an meiner Seite.
Weghören ist oft einfacher, und es ist definitiv angenehmer, schonender für die Nerven (ich zitterte noch eine ganze Stunde nach dem Konflikt), schonender für sich selbst, für die anderen, die nicht daran erinnert werden wollen, dass sie nichts sagen. Vielleicht wollen sie gar nichts sagen, weil sie nie etwas sagen, aus Prinzip, und weil Harmonie schöner ist als Streit, oder weil sie davon ausgehen, dass es eh nichts bringt, dass eine herzlose Person auch durch eine Zurechtweisung nichts dazulernt. Manchmal gilt es gar als liberal, als souverän, nicht zu reagieren auf eine Provokation, Bösartigkeit oder Kränkung. Bleibt die Frage: Was bin ich mir schuldig? Oder: Was bin ich meinen Kindern schuldig, was bin ich diesem Kind schuldig und allen, die ein Kind verloren haben?
Ich weiss nicht, ob das die richtigen Fragen sind.
Meine Tochter und ich sassen einander Ende Dezember in der Rhätischen Bahn auf den Fensterplätzen gegenüber, von Zürich herkommend fuhren wir nach Celerina, wir plauderten, lachten, als in Bergün eine lebhafte Gruppe zustieg – warm angezogen, gute Schuhe, Helme. Sie würde an der nächsten Haltestelle, Preda, wieder aussteigen. Auf zum Schlittelplausch! Das kleine Abteil war bald voll. Neben mir sass eine junge Frau, neben meiner Tochter ein junger Mann. Das Paar wirkte frisch verliebt, seine Hand suchte ihre, tätschelte, streichelte, spielte, sie zog ihre Finger von Zeit zu Zeit zurück, einmal abrupt, was eine Lücke ergab, er schaute auf sein Smartphone, las eine Pushmeldung, erschrak, sagte aufgeregt zu seiner Freundin, es sei etwas ganz Furchtbares geschehen, in der Lenk habe heute ein Zusammenstoss zwischen einer Vierjährigen und einem Erwachsenen zum Tod des Kindes geführt. «Stell dir mal vor, wie schrecklich sich dieser Mann jetzt fühlt!», sagte er leise. Da sagte die Frau neben mir mit fester Stimme: «Das war sicher die Schuld dieses Kindes. Scheiss-Kind!»
Hatte sie das gesagt? Unmöglich. Ich musste sie falsch verstanden haben, ich überlegte, was sie wohl stattdessen gesagt haben könnte, schaute zu meiner Tochter, die meinen Blick finster erwiderte, da kam ich zum Schluss, dass die etwa 20jährige Frau neben mir sehr wohl dem «Scheiss-Kind» die Schuld an seinem tödlichen Unfall gegeben hatte. Was tun? Schweigen? Aushalten? Ich sah meine Tochter als vierjähriges Mädchen in ihrem roten Kleidchen, wie sie bei der Grossmutter Teig rührt, und ich dachte an die Eltern des toten Kindes. Zorn stieg in mir auf. Ich wollte nicht schweigen, obwohl ich wusste, ich würde einen Preis zahlen für eine Gegenrede. Empörung und Unverständnis würden aufgeschäumt und verstärkt. Die Angst, ein Verlust könnte mich treffen, würde getriggert. Die Scham wüchse, weil ich hier öffentlich Theater mache und unangenehm auffalle. Vielleicht wäre das alles meiner Tochter peinlich, vielleicht entblösste ich mich vor den anderen Reisenden, letztlich vor mir selbst.
Ich sagte trotzdem zu der jungen Frau, sie sei herzlos, ohne jeden Anstand, ob sie sich vorstellen könne, was diese Eltern jetzt durchmachen, sie solle sich schämen. Ich wiederholte noch zwei Mal, sie solle sich schämen, und es tat mir weh, ich fühlte mich schlecht und unpassend. Die junge Frau reagierte trotzig, aggressiv, das gehe mich nichts an, ich habe sie nicht zu belauschen. Ich sagte: «Doch, das geht jeden etwas an, ich habe nicht gelauscht, ich kann nicht verdrängen, was ich gehört habe, und ich bin empört.» Die Gruppe vis-à-vis, Mütter und Kinder, schwieg, es gab keinen Support, weder für die junge Frau, noch für mich. Sie wollten damit nichts zu tun haben. Ich verstand das. Meine Tochter schwieg, aber ich wusste sie jederzeit an meiner Seite.
Weghören ist oft einfacher, und es ist definitiv angenehmer, schonender für die Nerven (ich zitterte noch eine ganze Stunde nach dem Konflikt), schonender für sich selbst, für die anderen, die nicht daran erinnert werden wollen, dass sie nichts sagen. Vielleicht wollen sie gar nichts sagen, weil sie nie etwas sagen, aus Prinzip, und weil Harmonie - welche auch immer - schöner ist als Streit, oder weil sie davon ausgehen, dass es eh nichts bringt, dass eine herzlose Person auch durch eine Zurechtweisung nichts dazulernt. Manchmal gilt es gar als liberal, als souverän, nicht zu reagieren auf eine Provokation, Bösartigkeit oder Kränkung. Bleibt die Frage: Was bin ich mir schuldig? Oder: Was bin ich meinen Kindern schuldig, was bin ich diesem Kind schuldig und allen, die ein Kind verloren haben?
Ich weiss nicht, ob das die richtigen Fragen sind.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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