Auch wenn sie nicht ganz passen: Die Schüler haben warm dank ihren Uniformen. Fotos: Ruth Bossart
Wenn ein Kind in der Schweiz einen Intelligenzquotienten von über 130 hat, sind die Chancen gross, dass es speziell gefördert wird. Begabtenförderung ist inzwischen so unbestritten wie klar ist, dass schwächere Kinder Unterstützung brauchen.
Ganz anders sieht die Situation in Indien aus: Schätzungen gehen davon aus, dass alleine in den Slums des Subkontinents rund sechs Millionen Kinder leben, die hochbegabt sind. Viele von ihnen werden nie entdeckt, es kann sogar sein, dass sie nicht einmal richtig lesen und schreiben lernen. Genauso wie Kinder, die eigentlich Lernsupport bräuchten.
Das Schulsystem in Indien ist so vielfältig wie das Land selber und reicht von staatlichen Schulen bis hin zu privaten Eliteinstituten, die einen fünfstelligen Franken-Betrag pro Jahr kosten. Allerdings sind solch teure Schulen einer kleinen superreichen Minderheit vorbehalten. Für die meisten Familien bleibt nur eine staatliche Schule. Dort sitzen in den Klassen oftmals bis zu 90 Kinder, die Infrastruktur verdient diesen Namen kaum, Toiletten gibt es nicht überall. Bücher oder Hefte müssen geteilt werden, die Lehrer sind schlecht bezahlt und viele gehen noch Nebenjobs nach, um über die Runden kommen.
In einem Aussenquartier von Delhi habe ich kürzlich eine Slumschule besucht. Sie wird von einer einer NGO geführt, da es in der staatlichen Schule offenbar zu wenig Platz gibt für Kinder aus diesem Quartier. Die Mittel der Slum-Schule sind so knapp, dass der Unterricht im Freien stattfindet – bei jedem Wetter. Die „Klassenzimmer“ werden täglich mit Zeltblachen hergerichtet. Wenn es windet, müssen die Kinder auf den Zeltstoff sitzen, damit er ihnen die provisorischen Wände nicht um die Ohren weht. Tische und Bänke gibt es keine. Die Kinder sitzen auf dem Boden. In der 1. Klasse steht ein Stück Schiefertafel auf einem Stuhl. Wenn ein Windstoss kommt, fegt er das Teil vom Plastikstuhl.
In dieser Schule tragen die meisten Kinder eine Uniform. Vielen ist sie aber zu klein oder zu gross. Doch wenigstens haben sie warme Kleidung. Barfuss ist zum Glück keines unterwegs, denn die Temperaturen sind maximal 15 Grad in diesen Tagen.
Der Verein Mensa, ein weltweiter Zusammenschluss von hochintelligenten Menschen, hat in dieser Slumschule einen Intelligenz-Test durchgeführt. Unter den 500 Kindern, die diese Schule besuchen, konnte der Verein vier Mädchen und Buben identifizieren, die einen IQ auf Genie-Level haben.
Die entdeckten, hochbegabten Kinder haben unglaubliches Glück: Der Verein hat für sie Gönner und Sponsoren gesucht, die ihnen ein Stipendium und Taschengeld bezahlen. Freiwillige Mentoren begleiten die Kinder und ihre Familien auf diesem neuen Lebensabschnitt. Denn die vier Hochbegabten besuchen nun alle eine gute Privatschule und das Taschengeld hilft mit, die Familien über die Runden zu bringen.
Die Familien waren zunächst skeptisch, ihre Kinder, insbesondere Mädchen, weiter zur Schule zu schicken. Würden diese Kinder nicht besser mithelfen, Geld als Schuhputzer oder als Blumenverkäuferin zu verdienen? Die Mentoren konnten die vier Familien überzeugen und alle Hochbegabten besuchen nun die Mittelschule.
Trotz hohem IQ müssen die Schüler Hürden überwinden, die wir uns kaum vorstellen können. Anjali Singh zum Beispiel ist 14 und wohnt mit ihren zwei jüngeren Geschwistern und den Eltern in einem fünf Quadratmeter-Raum ohne fliessendes Wasser, ohne Toilette, gekocht wird auf einem Campingkocher. Lernen kann Anjali, die Ärztin werden will, nur nachts, wenn alle schlafen. Ihre Bücher studiert sie im Schein der Notlampe, die im Zimmer hängt.
Anjali beklagt sich nicht. Im Gegenteil: Sie kann ihr Glück manchmal kaum fassen. „Ich will meinen Abschluss einmal mit einer Höchstnote machen und so zeigen, dass ich mit Recht ausgewählt worden bin.“ Schon heute ist sie Klassenbeste in verschiedenen Fächern.
Als ich kürzlich im Bus nach Zuoz sass und den Schülerinnen und Schülern zuhörte, staunte ich etwas: Die Prüfung in Chemie sei unfair gewesen, motzten ein paar, der Lehrer ein Depp und überhaupt, freuten sie sich schon am Montag auf das Wochenende.
Das Gymnasium scheint für viele Schweizer Jugendliche eher Tortur als Chance zu sein.
Ruth Bossart
Ruth Bossart ist Historikerin und lebt mit ihrem Mann und Sohn Samuel seit diesem Frühjahr in Bern. Zuvor berichtete sie für das Schweizer Fernsehen aus Indien. Laufen, Ski- und Velofahren gelernt hat Samuel in Pontresina und Zuoz, bevor die Familie 2010 nach Singapur und später in die Türkei zog. Jedes Jahr verbringen die Drei aber immer noch mehrere Wochen im Engadin – nun nicht mehr als Einheimische, sondern als Touristen.
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