Foto: tauscheria, sieben tauscheria-Mitglieder bringen einen ganzen Wintervorrat Holz ans Trockene
Zuzügererinnen und Zuzüger bekommen in der Gemeinde Scuol ein Informationsblatt mit auf den Weg, das mitunter auch zum Beitritt in einen Verein rät. Ich habe diesem Hinweis nicht gleich Beachtung geschenkt. Man muss es ja nicht übertreiben. Erstmals ein paar Worte Romanisch lernen, den Quartierbrunnen putzen, sich im Alltag bewähren, morgens ein Bun di auf den Lippen, auch wenn man immer zuerst grüsst. Irgendwann merken die Einheimischen dann schon, dass man zu bleiben gedenkt. Verfügt man über ein eher zurückhaltendes Naturell, dauert das gut und gerne ein Jahr. Nun fand ich mich nach einem Jahr doch mehr oder wenig zufällig an einer Generalversammlung eines Vereins wieder. Auf der Suche nach einem Fahrer für meinen Umzugstransporter von Sent nach Scuol fiel mir eine Broschüre der tauscheria in die Hände. Das Konzept dieses Vereins war mir sofort sympathisch, da ich mich ja mental bereits auf wirtschaftlich schwierige Zeiten einstelle – wer sich ein bisschen mit Wirtschaft auseinandersetzt, rechnet mit dem Kollaps des Bankensystems und macht sich schon mal Gedanken über die Abschaffung des Bargeldes. Als Einstieg in die Materie kann ich Dirk Müllers Machtbeben wärmstens empfehlen. Als Börsenkenner richtet Müller den Blick auf die geopolitischen Brennpunkte, die einen Crash auslösen können, entwirft aber auch Zukunftsvisionen. In der tauscheria tauscht man Zeit gegen Zeit. Jede angebotene Tätigkeit sei dies Kochen, Bügeln, PC-Support, Hilfe bei der Buchhaltung oder Babysitten, ist gleich viel wert. Wer einem anderen Mitglied seine Dienstleistung zur Verfügung stellt, darf die investierte Zeit in Form eines anderen Angebotes wieder einlösen. Wenn ich beispielsweise jemandem beim Verfassen eines Briefes behilflich bin, kann ich im Gegenzug bei einem anderen Mitglied eine Wohnberatung buchen oder meinen Blazer flicken lassen. Meine neuen Freundinnen, das Durchschnittsalter beträgt ungefähr fünfzig, entpuppen sich zu meiner Überraschung als Biofans. Mein mitgebrachtes Rohkostbrot wird neugierig probiert. Erleichtert zähle ich die Zutaten auf. Und sofort ist von Doktor Bruker die Rede, wie vielfältig die Rohkost sei, und dass man die Zutaten ja bis 45 Grad erhitzen dürfe. Die Frauen wissen Bescheid. Sogleich werde ich als eines der jüngsten Mitglieder als Pilotin für die Rikscha-Fahrten für Bewohner vom Alters- und Pflegeheim nach Sur En angeworben. Jetzt muss ich nur noch meinen Töffliausweis, über den ich als Mädchen vom Lande verfüge, wiederbeantragen, und dann werde ich in die Pedale treten. Für die Gemeinschaft. Mehr unter:
Bettina Gugger
Bettina Gugger verbrachte die letzten Jahre im Engadin, zuletzt war sie Redaktorin bei der «Engadiner Post/Posta Ladina». Nun hat es sie wieder einmal ins Unterland verschlagen, wo sie für den «Anzeiger Region Bern» über das kulturelle Leben Berns berichtet. 2018 erschien ihr Erzählband «Ministerium der Liebe». 2020 folgte «Magnetfeld der Tauben». Im Rahmen eines Stipendienaufenthaltes in Klosters entstand der Kalender «Kunst BERGen», der 24 literarische Texte über Kunst versammelt. Auf bettinagugger.ch veröffentlich sie regelmässig kurze lyrische Prosatexte und einen Podcast für praktische Lebensfragen.
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