Foto: Romana Ganzoni
One-Man-Shows haben es mir angetan. Two-Women-Shows sind noch besser. Selber erlebt. Zum Beispiel vor Ostern im Hotel Laudinella, St. Moritz. Kein Wunder, kommen die Menschen dort in Schwung. Die Begeisterung sprang, wie immer, von First Lady «Kunst und Kultur», Vizedirektorin Vera Kaiser, wie ein bezaubernder Bazillus auf Darbietende und Publikum über. Sie machte den Anfang, stellte Gast und Moderatorin charmant und kundig vor: Roman-Autorin und Journalistin Simone Meier, Zürich, und mich, Celerina.
Ich fühlte mich gleich wohl. Nicht nur, weil ich an diesem Abend Geburtstag hatte, ich sass mit einer Freundin am Tisch, wir tranken Prosecco, ihr dritter Roman «Kuss», im Februar bei Kein & Aber erschienen, gefiel mir ausnehmend gut. In der Bibliothek sassen unsere Lieben, Freunde, Hotelgäste, interessierte Leserinnen und Leser. Eine feine Runde. Simone Meier las die geschickt ausgesuchten Passagen mit wohlklingender Stimme.
Dann entspann sich in mehreren Phasen ein Gespräch, das persönlich war und – davon gehe ich aus – überraschend für die Zuhörerinnen und Zuhörer, aber auch für die Kuss-Autorin und für mich. Wir liessen es laufen. Was hier passierte, halte ich für ideal, gerade bei Lesungen, wo ein Buch präsentiert wird, das jeder im stillen Kämmerchen geniessen kann. Jede hat die Möglichkeit, sich darüber in Zeitung, Radio, Fernsehen und Netz zu informieren. Klar, die Autorin ist da, sie ist klug, sympathisch, hat eine schöne Bluse an, beantwortet Fragen, das ist toll. Aber der ideale Leseabend bietet einen zusätzlichen Mehrwert for Anwesende only. Sie bekommen eine ganz bestimmte – intime, ausgelassene, warme – Atmosphäre mit. Vor Ort fabrizierte Überlegungen und Geschichten, die Teil eines einmaligen Anlasses werden, wie ein kleines gemeinsames Geheimnis.
Kein Geheimnis soll meine Sicht auf Simone Meiers Roman bleiben: ein vergnüglicher und endkluger Abwehrexzess gegen Pathos, Romantik und Kitsch, der ex negativo Pathos, Romantik und Kitsch als Verspiegelung grosser Gefühle zugänglich und schön macht, sie rehabilitiert. Im Räderwerk libidinöser Zentrifugen wird uns eine städtische Saft- und Milieupresse präsentiert. Die Träume der Menschen gehen nicht in Erfüllung, weil das stil-, design-, öko- und imagebewusste Soya-Latte-Personal nicht mehr sicher ist, wo Dream aufhört und Reality beginnt. Am Rad drehen alle, auch die Medien, die abbilden, was sie kommentieren sollten. Konsum, Banalität, Reizflut, Entgrenzung ohne Rausch und das viele Meta pumpt auf, gleichzeitig dehydriert und entleert es auf der Suche nach dem Echten und Innigen. Deshalb wird nicht nur geküsst, es wird auch erbrochen.
Sehnsucht irrlichtert, hat keinen Ort, sie sucht sich ein renovationsbedürftiges Haus, an dem gemalt und gezimmert wird wie irr, von Anfang an, bevor es offensichtlich irr wird. Die Imagination ist kontaminiert, sie sucht überall, in Serien und Shows, in digitalen Räumen, im Alltag, sie sucht in einer Welt, die Atomwaffen, Armut und billigen Zucker mit trendiger Tapete verbirgt, deshalb wollen alle auswandern. Ein zärtlich leergeküsster Mund sowie der Tod der wundervollen Grossmutter werden zu Gärten existentieller Begegnung und Gegenwelt zum Projekt. Und Ende Jahr kommt der Schnee, er wattiert, es gibt einen Funken Hoffnung, dass der Krach der pseudodynamischen Spirale auch mal Winterferien macht und die letzten Schritte in Richtung Horror das Ende eines guten alten Traumes waren. Kein Trick. Einfach gute Literatur.
Das letzte Geheimnis wurde vor Ostern leider nicht gelüftet. Weil ich vergass, die Frage aller Fragen zu stellen: Wie hat Frau Meier bloss von der mittelnahtlosen Unterhose für Männer erfahren? Hat sie recherchiert, hat sie eine mittelnahtlose Unterhose auf der Strasse gefunden, im Gestell eines Kaufhauses, zufällig oder bewusst? Warum? Ich möchte Simone Meier auf diesem Weg danken, dass ich über die Lektüre ihres Buches endlich erfahren habe, dass es eine mittelnahtlose Unterhose für Männer gibt. Bis zu diesem Hinweis hatte ich immer dieses diffuse, saublöde Gefühl, nur so halb zur sogenannten Informationsgesellschaft zu gehören. Jetzt bin ich diesen Minderwertigkeitskomplex los. Lesen bildet. Enorm. Danke.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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