"Zwischenwelten", Foto: Bettina Gugger
Ich lebe in mehr als einer Welt; in einer literarischen und einer Brotwelt, obwohl ich mich bemühe, möglichst wenig Kohlenhydrate zu verzehren, was mir aufgrund des verführerischen Angebotes der Bäckerei Erni nicht immer gelingt. Ich lebe in einem Naturparadies, meinem persönlichen Réduit, aus dem heraus ich konzentriert meine literarischen Botschaften in die Welt raushauen oder zwitschern kann, ohne mich in 9.11.- Klima– Gendermainstreaming– Flüchtlingswellendiskussionen, in denen die Positionen über Freund und Feind entscheiden, verlieren zu müssen. Hier habe ich noch nie davon gehört, dass einer oder eine des Verschwörungs-Theoretikums bezichtigt worden wäre. Hier findet man handfeste Gründe, jemanden zu kritisieren, Fehlleistungen, die das Zusammenleben stören. Notfalls streut man Gerüchte, um das Zusammenleben zu beleben. Früher oder später setzt man sich jedoch wieder an denselben Tisch, weil es halt nicht immer genügend freie Tische hat. Der schwarze Peter bleibt immer im Umlauf, die Karten werden regelmässig neu gemischt.
Ein literarischer Ausflug ins Unterland gleicht jeweils dem Besuch eines Vergnügungsparkes. Ich teste die neusten veganen Restaurants, schlecke veganes Eis, inspiziere Cocktailbars und verfalle schlechten Gewohnheiten wie dem Alkohol- und Kaffeegenuss. Ich putze mich heraus, um mich vor der unsichtbaren Phase noch ein bisschen jugendlich zu fühlen. In Scuol fällt das ja gleich auf. Da muss man sich entscheiden, ob man sich immer schick anzieht oder gar nie. Etwas Dazwischen ist suspekt, und dann noch Cocktails schlürfen? Da muss man schon einen guten Grund dafür haben, wenn man aufgedeckt wird. Eine Cocktailrecherche für die Engadiner Post vielleicht.
In Bern falle ich durch bizarres Verhalten auf. Ich grüsse die Menschen im Quartier meiner Schwester in Bern. Nach dem dritten „Guten Morgen“ auf dem Weg ins Coop fällt mir auf, dass das Grüssen hier nicht so üblich ist. Und auch in die Migros gehe ich kaum noch, so cooperisiert bin ich inzwischen durchs Engadin. Nach dem Besuch bei Swing Kitchen bedanke ich mich bei der jungen Dame hinter der Theke, und bitte um ein Foto für Instagram und bedanke mich gleich nochmals, als ob ich definitiv einen religiösen Hau weg hätte. Eine Mennonitin zum ersten Mal in der Grossstadt. Ich staune über die Innovationen bei Tibits, dass man fürs Takeaway das eigene Geschirr mitbringen darf, Wasser umsonst bekommt, während wir im Engadin jedem Gast geduldig erklären, warum er fürs Hahnenwasser bezahlen muss. Beim Brunnen natürlich nicht. Aber man kann dem Restaurantbesucher ja schlecht raten: „Gehen Sie einfach zum Brunnen. Wir haben ja schliesslich über 20 Mineralquellen in Scuol. Aber sehen wir aus wie eine Quelle? Nein, wir sind ein Restaurationsbetrieb.“
Ich betrachte die strahlenden Frauenstreikgesichter, als ob jede von ihnen eine Medaille umgehängt bekommen hätte. Gratulation zum Frausein! Brust raus: Bella Ciao! Bella Ciao! Bella Ciao! Und die Männerblicke tasten vorsichtig die Weste nach dem Emblem des Frauenstreiks ab, als ob Gefahr bestünde, dass das weibliche Gegenüber gleich eine Machete zücken könnte. Im Engadin läuft das ein bisschen anders. Eine Gondelfahrt mit Bergbahnmitarbeitern klärt schnell auf. Auf dem Berg trägt man keine Samthandschuhe. Die Männer trotzen Wind und Wetter, da bleibt keine Energie mehr für Galanterien. Grundsätzlich wird die Internationale in der Gastronomie anders gesungen: „Fxxx dich! Halt die Fxxxxx! Was machst du nach Feierabend? Die läuft ja auch rum wie eine Nxxxx! Hast du Teig im Gehirn!“ Für Nichteingeweihte mag dieser lockere Umgangston schockierend sein. Aber im Grunde genommen spricht daraus sehr viel Contenance und fast zärtlicher Respekt füreinander, da auch im grössten Chaos niemals Teller fliegen. Ich mag diese Welt. Das gemeinsame Leiden an herausfordernden Gästen und endlosen Schichten ohne Pause verbindet. Nirgends lernt man so viele seltsame Menschen kennen wie in der Gastronomie. Man erlernt die effektivste Manipulationstechnik dessen sich auch Geheimdienste bedienen: Menschen durch Freundlichkeit, Charme und Schmeichelei gefügig zu machen.
Der Grund meines Aufenthaltes in Bern war übrigens die Hörbuchtaufe vom „Ministerium der Liebe“ mit Henry Love. Unsere Performance war sehr gefühlvoll und natürlich hundert Prozent naturbelassen… Früher oder später muss die Freundlichkeit und Menschenliebe ja in Fleisch und Blut übergehen, denn die entscheidenden Entwicklungen gehen immer vom Herzen aus. Die gelesenen Short Cuts mit den musikalischen Einlagen von Henry Love eignen sich auch sehr gut zum Runterkommen nach Feierabend… Das Werk stärkt sozusagen die Herzratenvariabilität.
Das Hörbuch ist in jeder Buchhandlung oder direkt über
Bettina Gugger
Bettina Gugger verbrachte die letzten Jahre im Engadin, zuletzt war sie Redaktorin bei der «Engadiner Post/Posta Ladina». Nun hat es sie wieder einmal ins Unterland verschlagen, wo sie für den «Anzeiger Region Bern» über das kulturelle Leben Berns berichtet. 2018 erschien ihr Erzählband «Ministerium der Liebe». 2020 folgte «Magnetfeld der Tauben». Im Rahmen eines Stipendienaufenthaltes in Klosters entstand der Kalender «Kunst BERGen», der 24 literarische Texte über Kunst versammelt. Auf bettinagugger.ch veröffentlich sie regelmässig kurze lyrische Prosatexte und einen Podcast für praktische Lebensfragen.
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