Fotos: Ruth Bossart
Eigentlich wusste ich es. Mein Freund von der Schweizer Botschaft in Delhi hat mir erzählt, dass wöchentlich durchschnittlich 7000 Visa für Inder ausgestellt werden. Als ich aber letzten Monat während meinen Sommerferien in Luzern zu einer Bank wollte, staunte ich dennoch. Ich konnte die Eingangstüre kaum erreichen. Rund hundert Inderinnen und Inder sassen auf den Treppen vor dem Bau am Seeufer von Luzern, erschöpft vom Sightseeing.
Auch im Zug von Luzern nach Engelberg fühlte ich mich fast wie zu Hause. Er war voll mit indischen Gästen. Alle plapperten freudig aufgeregt, die zu grossen Wollmützen bereits aufgestülpt, Frauen trugen trotz tropischen Temperaturen über ihre Saris Strickjacken, bereit für die Auffahrt auf den «Mount Titlis», 3238 Meter über Meer. Viele können heute das erste Mal im Leben Schnee berühren. Und alle – da bin ich sicher – werden ein Foto machen mit der Kartonfigur ihres Nationalhelden, dem indischen Megastar Sharukh Khan, der auf dem Titlis einen Teil des Filmklassikers «Wer zuerst kommt, kriegt die Braut» gedreht hat. Khans Film hat den Titlis in Indien berühmt gemacht.Die Schweiz ist bei den Wärme liebenden Indern besonders im Sommer angesagt. Wer etwas auf sich hält, fährt in der Alpenrepublik zu «Cheese and Chocolate Making Factories», zum Shoppen, in den Schnee und die Berge, wie zum Beispiel ins Berner Oberland. Als das Filmedrehen in der Bergregion Kaschmir wegen Kämpfen zu gefährlich wurde, sind die Bollywood Regisseure auf die Kleine Scheidegg ausgewichen. Seither ist die Destination für viele Inder gesetzt. Auffällig auch sonst: die meisten haben vielfach die gleichen Ziele: Luzern, Gruyere, Titlis und eben Interlaken-Jungfrau.
Diese Destinationen haben seit einiger Zeit auch das gleiche Problem: zu viele Touristen. Zwar nicht nur indische Gäste – die Touristenströme kommen aus allen Herren Ländern: aus China, Südkorea, Japan und immer mehr aus Indien. So viele sind es inzwischen, dass auf dem Titlis und der Jungfrau tägliche Besucherlimiten von 4000 oder 5000 Touristen eingeführt werden mussten, damit die Natur nicht zu viel Schaden nimmt und die Infrastruktur nicht noch gänzlich kollabiert. Es kommen dennoch so viele, dass nicht wenige Einheimische genug davon haben. Oder gar mehr als genug.
Kein Wunder war ich neugierig, was ich im Engadin vorfinden würde. Seit St. Moritz die extravagante indische Hochzeit des Ambani-Sprosses ausgerichtet hat, steht nämlich die «alpine town», wie St. Moritz in den sozialen Medien und der indischen Presse genannt wird, auf allen möglichen «Must-Visit-Before-You-Die-Listen». Für Millionen reiselustige Inderinnen und Inder darum eine imperative Traumdestination.
Doch die antizipierten Hundertschaften indischer Gäste habe ich bisher (noch) nicht gesichtet. Ob das Tal für viele Inder auf Europareise doch noch zu abgelegen ist? Wahrscheinlich. Denn anders als in der Innerschweiz, wo sie am Morgen auf den Titlis fahren, am Nachmittag in Luzern shoppen und am Abend auf dem Vierwaldstättersee das indische All-You-Can-Eat-Buffet geniessen können, um dann im Reisebus nach Milano weiterzufahren, ist nur schon die Anreise nach St. Moritz aufwändig.
Nichts desto trotz scheinen einige Inder den Reiseempfehlungen ihrer Stars und der «Bucket List» zu folgen und nehmen selbst den beschwerlichen Weg ins Engadin auf sich. Ein Hotelier erzählte mir, dass er dieses Jahr erstmals indische Gäste beherbergt habe. Weiter ist man in meiner Lieblingspizzeria im Tal: Auf der Speisekarte, hinter «Pizze e Pasta», fand ich doch tatsächlich eine Rubrik: «Indian Corner».
Ruth Bossart
Ruth Bossart ist Historikerin und lebt mit ihrem Mann und Sohn Samuel seit diesem Frühjahr in Bern. Zuvor berichtete sie für das Schweizer Fernsehen aus Indien. Laufen, Ski- und Velofahren gelernt hat Samuel in Pontresina und Zuoz, bevor die Familie 2010 nach Singapur und später in die Türkei zog. Jedes Jahr verbringen die Drei aber immer noch mehrere Wochen im Engadin – nun nicht mehr als Einheimische, sondern als Touristen.
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