Weder Winter noch Frühling: Mai-Schnee am St. Moritzer See
«Ich muss dich schon sehr lieben, wenn ich jetzt hier heraufkomme». Das ist mein Standardspruch, um dem Engadiner Lebenspartner gegenüber auszudrücken, dass es Zeiten gibt, zu denen das sonst in höchsten Tönen gelobte Hochtal eben nicht der schönste Aufenthalt der Welt ist. Wenn es rund um den Zürichsee schon saftig grün ist, die Blumen wuchern, in den Gärten das Bier zischt und die Steaks auf den Grills brutzeln – notabene bis in den späten Abend –, dann braucht es schon viel, sich für eine Fahrt nach jenseits des Albulatunnels zu begeistern.
«Hallo liebe Unterländer»
Da mag sich Christian Gartmann mit seinen famosen «Hallo liebe Unterländer»-Videos, die inzwischen auf Facebook zum Renner geworden sind, noch so ins Zeug legen. Den Mai im Engadin schön zu reden, das schafft wohl auch das grösste Marketing-Genie nicht. Diese eigenartige Übergangszeit, in der es nicht mehr richtig Winter ist, und noch lange nicht Frühling, kann ganz schön aufs Gemüt schlagen.
Miese Laune
Eine werbetechnische Meisterleistung ist es aber durchaus, dass es weitgehend gelungen ist, diese miese Laune der alpinen Natur vor den potentiellen Touristen geheim zu halten. Auch die meisten Schweizer, die unter 1500 Metern wohnen, zeigen sich regelmässig bass erstaunt, wenn man ihnen davon berichtet. «Ach, du fährst ins Engadin. Da ist es jetzt bestimmt herrlich», meinen sie gutmütig, wenn ich an einem warmen Zürcher Maitag in den Zug steige. Ja, herrlich einsam. Denn alle Einheimischen, die irgendwie können, haben sich davongemacht. Dass die «grossen Ferien» der Engadiner mit drei Wochen schulfrei im Mai stattfinden, ist im Unterland ebenso wenig Allgemeinwissen wie die langen Schliessungszeiten der Hotels. Natürlich kann ich es bestens nachvollziehen, dass man sich in dieser Zeit in weit wärmere Gefilde verzieht. Warum sich die Engadiner aber in punkto Ferienziel dann gleich wieder zusammenrotten müssen, ist mir noch nicht ganz klar geworden. Dieses Jahr war es offenbar vor allem Sardinien oder Florida, wo man seinem Nachbar aus Zuoz oder Pontresina wieder am Pool treffen konnte. Die Zwischensaisons abschaffen, das ist eine immer wiederkehrende Idee, die regelmässig auftaucht, wenn einmal wieder ein neues Hotel eröffnet oder ein altes von einem Ortsfremden übernommen wird. Allen, die bisher den alteingesessenen Hoteliers erklärt haben, dass sie etwas falsch machten, und auch im «Frühjahr» und im Herbst Frequenzen generieren müssten, ziehen spätestens nach ihrem ersten Mai hier oben kleinlaut den Schwanz ein.
Nur noch Trockenfutter
So manchen Neo-Engadiner hat der Mai-Blues schon kalt erwischt. Mir erzählte mal ein neu engagierter Hoteldirektor, wie er sich eines Abends in seinem leeren Hotel verzweifelt über die Nüsschen und Mandeln in seiner Bar hermachte. Er hatte vergessen einzukaufen, alle Restaurants im Ort waren geschlossen und das Trockenfutter war das einzig Essbare, das man am Saisonende nicht entsorgt hatte. Die Art und Weise, wie zweimal im Jahr die grossen Hotel-Schlachtschiffe hier völlig herunter und Wochen später wieder hoch gefahren werden, hat schon etwas Faszinierendes. Ich möchte gern einmal eine Fotoreportage oder einen Film darüber machen. Die mit weissen Tüchern abgedeckten Möbel und Kronleuchter, die leeren Flure und die blitzblanken Kochfelder müssten poetische Bilder abgeben. In manchen Häusern wird sogar die ganze Stromversorgung abgeschaltet. Irgendwie gespenstisch. Es hat ja durchaus etwas erstaunlich Bäuerliches, wie im Engadin das hochentwickelte Dienstleistungsgewerbe ganz im Rhythmus der Jahreszeiten lebt. Man könnte es auch archaisch nennen – im wahren Sinn des Wortes, übrigens. (Kleiner Tipp, liebe Tourismusorganisation: «archaisch» ist nicht gleich «ursprünglich» und euer Spruch von der «archaischen Natur» nicht wirklich gelungen.)
Zum Glück gibt's Chiavenna
Wenn ich den klimatischen Härtefällen des Engadiner Jahreslaufs etwas Gutes abgewinnen kann, dann ist es tatsächlich dieses ganz klar definierte Wechselspiel, das sie dem Leben hier aufprägen. Man weiss genau, nach der Zeit der höchsten Anspannung, des Wirbelns und Schaffens lässt man mit einem Mal alle Luft entweichen, darf sich vom mondänen Hotspot in ein stilles Bergdorf verwandeln – und genauso sicher nach zwei, drei Monaten wieder zurück. Diese Atempause ist durchaus ein Privileg, das etwa die städtische Hotelbranche überhaupt nicht kennt. Und wer beim nächsten Schneefall im Mai oder Juni doch noch die Krise kriegt, dem bleibt ja immer noch Chiavenna. Als kurzfristige Massnahme, wenn man all die Neidmacher-Bilder seiner Kollegen auf Facebook oder Instagram nicht mehr aushält, fährt man halt rasch den Maloja hinunter. Dort trifft man dann all die anderen Daheimgebliebenen auf der Piazza beim Espresso oder bei einem Teller Pasta in der Trattoria. Das ist übrigens auch eine der Eigenheiten des Engadins, die vielen Unterländern nicht wirklich vertraut ist: Wie nah der Süden, die Wärme, die Italianità ist. Bellissimo.
Ruth Spitzenpfeil
Pendlerin zwischen Zürich und dem Engadin, die ihr Büro nicht selten in der Rhätischen Bahn aufschlägt. Sie arbeitet seit 35 Jahren als Journalistin, davon die meiste Zeit bei der Neuen Zürcher Zeitung. Dort galt sie als die inoffizielle Engadin-Korrespondentin, hat unzählige Geschichten im Tal recherchiert und Filmbeiträge produziert. Bekannt wurde sie auch mit ihrem Video-Blog «In fremden Federn», einer Serie von witzig-kritischen Hoteltests.
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