Manche Dinge verraten ihre wahres Potential erst nach einer langen Wartezeit. Bild: Carla Sabato
Die Reise begann in einer Papiertüte. Was vorher geschah, lässt sich nicht so genau rekonstruieren, sicher ist aber, dass der Ursprung an der Grenze der Kantone Bern und Freiburg liegt. Die Papiertüte reiste den ganzen Weg in die südliche Westschweiz, fast bis nach Frankreich. Dann geschah etwas Unerwartetes: Die Tüte öffnete sich, drehte sich auf den Kopf und er stürzte mit voller Wucht auf eine harte Unterlage. Was war denn das? Der Untergrund war farbig, die Wände unüberschaubar hoch. Auf einmal ergoss sich ein Schwall Wasser über ihn, gefolgt von einem monströs harten Utensil, das ihn hin und her schob und in eine klebrige Masse verwandelte. Dann hob sich die harte Unterlage plötzlich und liess ihn in einen durchsichtigen Behälter kippen. Dann wurde eine durchsichtige Scheibe mit einem dumpfen Geräusch auf das Gefäss gesetzt. Nun herrschte Stille, denn die Scheibe dämpfte sämtliche Geräusche von draussen ab. Aber er konnte durch die durchsichtige Wand sehen was vor sich ging. Er sah eine offene Wohnküche, ab und zu wuselte eine junge Frau mit langen Haaren an ihm vorbei oder kam mit ihrem Auge unangenehm nahe an die Scheibe. Manchmal hob sie ihn auch in die Luft und liess ihn hin und her kippen, sodass er gefährlich von der einen Seite zur anderen schwappte. So harrte er stundenlang aus. Bis es draussen dunkel wurde und die Scheibe plötzlich weg war. Dann wurde die Hälfte von ihm einfach aus dem Gefäss gehoben und auf nimmerwiedersehen entsorgt. Danach folgte wieder ein Schwall Wasser und einen Anteil aus der alten Papiertüte. dieses Muster wiederholte sich für die nächste Ewigkeit. Stunden? Tage? Wochen? Er wusste es nicht. Schliesslich kam ein Tag, der anders war als sonst. Die junge Frau rumorte aufgeregt vor ihm hin und her. Schliesslich wurde er mit einer ganzen Menge trockenem und nassem Zeug aus seinem alten Glas geholt und vermischt, dann kam er an einen warmen Ort. Doch das war noch gar nichts. Der nächste Ort war noch viel wärmer, ja, unerträglich heiss. Als er dachte, er müsse gleich sterben, verringerte sich die Temperatur schlagartig ins angenehm Kühle. Doch nun sah er ganz anders aus! Rund, braun gebrannt, mit einer knusprigen Kruste aussenrum und einem feuchten Inneren. Er fühlte sich wie neugeboren. Sie lasen: Die Reise des Roggenmehls zum Sauerteig und zum Roggenbrot. Der Blick von innen, Versuch Nummer eins.
Carla Sabato
Carla Sabato ist Studentin, ehemalige Praktikantin bei der Engadiner Post, Hobbyfotografin (liebend gerne in der Dunkelkammer), stolze Vegetarierin, Yoga-Praktizierende, Verfechterin gemässigter Klimazonen, Frühaufsteherin, Hundehalterin, Pragmatikerin, schwarze Rollkragenpullover Trägerin, Teilzeit Existentialistin, Raus-aber-richtig-Frau, schlechte Autolenkerin und Möchtegern-Vancouverite.
Diskutieren Sie mit
anmelden, um Kommentar zu schreiben