Foto: Romana Ganzoni
Menschen verkehren produktiv Begriffe, deuten eine Schmähung, eine Demütigung in einem Akt der trotzig-trotzenden Selbst-Ermächtigung positiv um. Ehemalige Schimpfwörter nehmen plötzlich Fahrt auf, werden zu einer neuen, coolen Marke. Der Kränkung die Spitze abschlagen, päng! Der Aggressorin, dem Aggressor die Hose runterlassen. Du willst mich Nerd schimpfen? Sage ich mir halt selber Nerd. Oder Kanake. Schwul. Nigger. Schlampe. Auch Quäker, Jesuite und Christin, Tory, Whig. Sogar Fauvismus und Impressionismus gehörten einst zum Bespuckten. Längst haben sie ihr pejorative Bedeutung abgelegt und sind zur Beschreibung aufgestiegen. Ähnlich operiert die ästhetisch verbrämte Abwehr als politischer Kommentar, in dem vordergründig der Oberfläche gehuldigt wird. Was Moralisten schon in den 1790ger Jahren bis aufs Blut (!) reizte. Kein Wunder. Französische Frauen trugen ein rotes Band um den Hals, frivol-makabrer Hinweis auf die öffentlichen Hinrichtungen durch die neu erfundene Köpfmaschine. Beklagt wurde die Bekleidung à la Guillotine (oder «mode à la victime») natürlich als Zerfall der Sitten und nicht als raffinierte Kritik. Preussische Damen, die ihren Goldschmuck im Kampf gegen Napoleon dem Vaterland geschenkt hatten, trugen Ersatz aus Berliner Eisen (auch «schlesischer Draht» genannt), dem sogenannten «Fer de Berlin». Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft blieb der Eisenschmuck noch lange aktuell - als mahnende Geste. Darüber hinaus bestach er durch einen ganz eigenen Charme. Nachdem aufständische Offiziere und Soldaten Ende 1825 (im sogenannten Dekabristenaufstand) die Abschaffung des Zarenreiches gefordert und daraufhin entweder exekutiert oder verbannt worden waren, trugen Aristokratinnen am Hof eiserne Armreife als dekorative Hommage an die in Handschellen nach Sibirien gezwungenen Reformer. Das Kropfband («tour de cou») verbarg den durch Jodmangel entstandenen Kropf («Stuma»), eine krankhafte Verdickung der Schilddrüse, oder die Narben der Entfernung - als einfaches Samtband oder aufwändiger Schmuck, der Bestandteil vieler Trachten wurde. In den 1990er-Jahren entdeckten Modebewusste die Kropfbänder. In der Folge feierten sie ein Revival unter dem Begriff «Choker». 2020: Corona-Mode Mundschutz. Schon gibt es ironische Schminkvideos, die uns auf Instagram zeigen, wie frau das Make up über die Maske auftragen soll, inklusive perfekt geschminkter Kussmund. Und die modischen Varianten zum Medizinschick schiessen aus dem Boden. Auch in der Schweiz, auch in Graubünden. So präsentiert das 2018 für «Sgrafits Engiadinais» mit dem Jungunternehmer-Preis ausgezeichnete Sentner Duo Heidi Laurent-Domenig und Lidia Domenig-Etter ihre Version von Hygienemasken mit Stil. Ein sehr diskretes, schönes Produkt aus 100 Prozent Baumwolle, doppelt genäht und mit mindestens 60 Grad waschbar (www.schlerin.ch). Ebenfalls umtriebig ist die aus Graubünden stammende Künstlerin Pascale Wiedemann. Sie bietet in Zürich ihre Pornomaske im harmlosen Stil des Glarnertüechlis an (Siebdruck in verschiedenen Farben, limited Edition). Ebenfalls mit 60 Grad waschbar (wiedemann@wiedemannmettler.ch). Und dann gibt es www.medischick.ch. Die Schutzmasken sind in Handarbeit von Zürcher Oberländer Frauen gefertigt. Die Käuferin oder der Käufer unterstützt Selbstständige, die durch die Corona-Krise ihrer Erwerbsgrundlage beraubt sind. Die schönen Stoffe tragen Namen wie: Flower&Dart, Goldschimmer, Zitrone, Provence, Flipflop, Porzellan, Blumenwiese, Ohm, Urban Anthrazit, Pfau, Blumenranke, Blumenraute, Granatapfel, Pfingstrose. Not macht erfinderisch.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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