Bild: Dominik Brülisauer
Wenn man im Sommer im Engadin mit dem Mountainbike unterwegs ist, begegnet man früher oder später einem Wanderer. Das ist so sicher, wie im Fitnessstudio einen Narzisten zu treffen oder in der gemischten Sauna einen stillen Beobachter. Der Wanderer tritt dann freundlich zur Seite und lässt den Biker vorbeiziehen. Nicht selten tauscht man noch Nettigkeiten aus. Man macht sich gegenseitig Komplimente über die schöne Federgabel oder die schöne Feder im Wanderhut und wünscht sich noch einen schönen Tag. Würden doch die Israelis und die Palästinenser ihr Territorium auch so zivilisiert miteinander teilen, die Welt wäre ein besserer Ort. Gewandert wird auf der ganzen Welt. Die Königspinguine wandern zu ihren Brutstätten, die Moslems nach Mekka, der Pokal von Sieger zu Sieger, die Kontinentalplatten rund um den Globus und Beatrice Egli unterwandert den guten Geschmack. Aber nirgends wandert man so schön wie im Engadin. Die Landschaft ist atemberaubend. Das liegt nicht nur daran, dass man oft bergauf steigen muss, sondern vor allem, weil sie unvergleichbar schön ist. Kommt noch dazu, dass wir unsere Wanderwege besser pflegen als Glencore sein schlechtes Image. Allerdings werden wir Engadiner nicht als Wanderer geboren. Kinder finden Wandern etwa so prickelnd wie Sauerkraut essen, Haare waschen oder den Clown Dimitri. Ich habe immer argumentiert, dass Wandern eine Reise von A nach A ist und man es deswegen auch gleich sein lassen kann. Das logische Gegenargument meiner Eltern lautete jeweils, dass der Weg das Ziel sei. Worauf ich entgegnete, dass ich in diesem Fall mit ihnen bis zum Ziel, also zum Beginn des Wanderweges, mitkommen würde, um dann aber subito nach A zurückzukehren. Wieder zuhause, hätte ich dann auf dem Game Boy «Alpine Hike 89» gespielt. Meine guten Argumente sind an ihnen abgeprallt wie Xerxes an Sparta oder Göläs Charme bei den Frauen. Der Engadiner wird erst im Teenageralter zum Wandervogel. Weil es in jedem Dorf ungefähr nur eine Bar gibt und Busse so selten fahren wie die Amerikaner auf einen UNO-Beschluss Rücksicht nehmen, ist er schon in jungen Jahren viel zu Fuss unterwegs. Zum Einwärmen eine Stange im Gifthüttli in Samedan, dann auf einen Braulio ins Stübli nach St. Moritz und zum bitteren Ende nach Pontresina ins Pöstli. Eine Sauftour im Engadin ist vergleichbar mit dem Abwandern des Pacific Crest Trail – den kennt man aus dem Film «Der grosse Trip – Wild» mit Reese Whiterspoon. Die Wanderlust entwickelt sich erst später. Plötzlich ist man froh, dass man auf sicheren Pfaden unterwegs ist und nur den Wegweisern folgen muss. So einfach ist es sonst nie im Leben. Dabei kann man sich kleine Erfolgserlebnisse erarbeiten. Die Zeitangaben auf den Wegweiser geben an, wie lange man für eine bestimmte Strecke braucht. Diese Zeit versucht selbstverständlich jeder zu untertreffen. Im Hinterkopf denkt man zwar, dass diese Angaben für Grossmütter berechnet wurden, die bei Nacht in einem solarbetriebenen Rollstuhl mit zwei platten Rädern und einer angezogener Handbremse unterwegs sind. Trotzdem freut man sich über den Dopaminausstoss, wenn man nach einem Kraftakt am Ziel ankommt und diese Zeitangabe um mindesten fünf Prozent untertroffen hat. Schwierig wird das übrigens beim Wanderweg zum Morteratschgletscher. Wie die Liste der Ex-Freunde von Melanie Winiger wird dieser nämlich jedes Jahr länger. Unterwegs bewundert man die Flora und Fauna des Engadins. Beim Edelweiss fühlt man sich wie in der Stripbar. Man darf es anschauen, aber nicht anfassen. Die Kreuzotter wiederum darf man zwar streicheln, sollte man aber nicht. Im Gegensatz zur Malojaschlange beisst die nämlich. Und wenn man Schlangen zwischen den Beinen von anderen Wanderern runterbaumeln sieht, dann ist man vom Weg abgekommen und befindet sich bereits im Appenzell. Das Engadin bietet unterschiedlichste Wanderwege. Auf dem Philosophenweg auf Muottas Muragl denkt man darüber nach, ob das Ei oder das Huhn zuerst war. Nach ein paar Minuten Wandern in der frischen Bergluft kommt man dann zum Schluss, dass das egal ist. Hauptsache, in der Bergbeiz gibt es Spiegelei und grilliertes Hühnchen – egal in welcher Reihenfolge. Und wer gerne sehen möchte, wie sich die Natur entwickelt, wenn der Mensch sie nicht hegt und pflegt, der wandert im Schweizerischen Nationalpark. Oder studiert die Frisuren der Band Pegasus.
Dominik Brülisauer
Dominik Brülisauer ist 1977 geboren und in Pontresina aufgewachsen. An der ZHDK in Zürich hat er Theorie für Kunst, Medien und Design studiert. Momentan arbeitet er als Werbetexter, Kolumnist und Schriftsteller in Zürich. Die Bücher «Schallwellenreiter», «Der wahre Liebeslebensratgeber» und «Leben kann jeder» sind im Handel erhältlich. Er besucht das Engadin heute noch regelmässig um im Pöstli Bier zu trinken, auf der Diavolezza zu Snowboarden und um seiner Mutter seine Wäsche abzugeben.
facebook.com/dominikbruelisauer
Diskutieren Sie mit
anmelden, um Kommentar zu schreiben