28.09.2020 Franco Furger 5 min
Filmausschnitt aus Bohemian Rhapsody, Live-Aid-Konzert im Wembley-Stadion mit 72’000 Zuschauern.     Foto: Courtesy Twentieth Century Fox

Filmausschnitt aus Bohemian Rhapsody, Live-Aid-Konzert im Wembley-Stadion mit 72’000 Zuschauern. Foto: Courtesy Twentieth Century Fox

Neulich schaute ich Fernsehen. Für mich etwas Aussergewöhnliches, denn ich habe die Flimmerkiste vor Jahren aus meinem Wohnzimmer verbannt. Zunächst habe ich sie in den Keller gestellt, ich könnte sie ja vermissen, dachte ich. Doch ich vermisste sie nicht, keinen einzigen Tag, und hab sie deshalb ins Brocki gebracht. Ich wollte keinen Fernseher mehr haben, weil er mir ein perfider und verführerischer Zeitfresser war. Er entspannte mich zwar, aber der Inhalt, mit dem ich mich berieseln liess, war viel zu oft bloss Müll. Und das tut auf Dauer nicht gut. Es ist wie beim Junkfood essen: man wird fett und unbeweglich, einfach auf geistiger Ebene. Ausserdem ist das TV-Gerät ein ziemlich hässliches Möbelstück. Und trotzdem wird es wie ein Abgott an die Wand gestellt und alle anderen Möbel drumherum rangiert. Doch dies nur so nebenbei. Ich war also in den Ferien und genoss es, wieder mal einen gemütlichen TV-Abend zu machen. Ich schaute mir Bohemian Rhapsody an, ein Spielfilm über die Rockband Queen und ihren charismatischen Frontman Freddie Mercury. Ich mag Filme, die auf wahren Gegebenheiten basieren. Sie gaukeln einem so schön vor, dass man beim Fernsehen auch etwas lernen oder zumindest die Allgemeinbildung erweitern könne. Ich bin kein grosser Musikfan und schon gar kein Kenner. Ich bin etwa so musikalisch, wie Luciano Pavarotti Marathonläufer war. Aber die Band Queen, die unterschiedlichste Musikstile in ihren Songs vermengt und auch Opernelemente einbaut, fand ich immer gut. Wahrscheinlich, weil ich keinen Musikstil besonders favorisiere und auch keinen besonders ablehne. Der Film beginnt mit Freddie Mercury, wie er sich für den Auftritt am Live-Aid-Konzert im Wembley-Stadion (1985) vorbereitet. Freddie stutzt seinen Schnurbart. Läuft durch Gänge und eine Treppe hoch. Tritt auf die Bühne und wird von 72‘000 schreienden Fans begrüsst. Der Schluss des Films knüpft an diesen legendären Queen-Auftritt an, der als einer der besten Liveperformances in die Rockgeschichte eingegangen ist. Dazwischen bietet der Film viel Drama: Liebe, Streit, Absturz, Enttäuschung, Versöhnung, unheilbare Krankheit. Beste Unterhaltung also untermalt mit toller Musik. Ich versuche mich in Freddie Mercury hineinzudenken. Wie fühlt es sich an, wenn dir zehntausende Menschen zujubeln, auf dein Kommando im Chor singen, Liedzeilen singen, die du geschrieben hast? Was macht das mit dir? Macht es dich grössenwahnsinnig oder einfach nur einsam? Plötzlich wird mir bewusst: Vielleicht wird es sowas nie wieder geben: Rockkonzerte mit zehntausenden Fans, die Schulter an Schulter schreien, singen, kreischen. Menschenmassen in Ekstase. Weltweit gestoppt von einem kleinen Virus. Von einem Virus, das wohl noch lange unter uns bleiben wird. Vielleicht für immer. Der beste Schutz vor einer Ansteckung ist Abstand halten, Menschenmassen vermeiden. Doch wir tun uns schwer dabei, weil Menschen Menschenkontakt so sehr benötigen. Obwohl, eigentlich mögen wir es nicht, wenn uns fremde Menschen zu nahe kommen. Jeder Mensch kennt eine Intimzone, bei den meisten sind es circa 50 Zentimeter. In diesem Bereich dürfen sich nur sehr vertraute Menschen aufhalten, wie etwa der eigene Partner, enge Familienmitglieder oder gute Freunde. Wenn plötzlich fremde Menschen in die persönliche Intimzone treten, empfinden wir das als Grenzübertretung, als Folge kommt ein leicht beklemmendes Gefühl auf. Wir kennen dies zum Beispiel beim Fahren in einem vollen Lift. Das Distanzbedürfnis ist allerdings von Mensch zu Mensch unterschiedlich und auch kulturell bedingt. So ist in südländischen Gebieten das Bedürfnis nach Distanz geringer als in nördlichen Ländern oder Asien. Hat dies schon jemand untersucht bezüglich Corona-Ansteckungszahlen? Andererseits lieben es Menschen, wenn sie in der Masse aufgehen können wie bei einem Rockkonzert. Manchmal tun sie dabei Dinge, die sie später bereuen oder sonst nicht tun würden. Im schlimmsten Fall geraten sie grundlos in Panik und trampeln sich sogar gegenseitig tot. Ich habe gerne genügend Platz um mich. Grosse Menschenansammlungen zu meiden, liegt in meinem Naturell. Aber in jungen Jahren fand ich es schon auch geil, an Rockkonzerten abzutanzen. Die Musik interessierte mich dabei nur am Rande, wie gesagt ich bin unmusikalisch, es ging mir vielmehr um den Rausch in der Menge. Sich verlieren, die Kontrolle abgeben, Hemmungen lösen, sind ein urmenschliches Bedürfnis. Doch ist die Zeit der Massenhysterie tatsächlich vorbei? Die exzessive Fankultur für immer verbannt? Nie mehr Fasnacht und Street Parade? Man könnte nun sagen, dies wäre ein Fortschritt, die Menschheit würde sich dadurch weg vom Primitiven hin zu mehr Würde und Kultur entwickeln. Doch „leider“ gibt es noch das Internet, wohin sich Subkulturen flüchten können, wenn sie nicht mehr raus und zusammen abfeiern können. Wohin die digitale Ersatzparty führen kann, zeigt zum Beispiel das derzeitige Grassieren von Verschwörungstheorien. Da ist das Raue und Echte eines Rockkonzerts viel besser. Klicks, Views und Followers vermögen Schweiss, Geschrei und Rangeleien nicht zu ersetzen. In diesem Sinne: Ein Hoch auf Freddie Mercury. Nachtrag: Regelmässige und aufmerksame Blog-Leser und -Leserinnen mögen sich nun fragen, wie ich ohne Fernseher Snooker-Sport schaue, den ich so gerne mag. Nun, sich mit Unsinnigem berieseln lassen, geht auch mit Tablett und Smartphone bestens. 

Franco Furger

Franco Furger ist in Pontresina aufgewachsen und hat am Lyceum Alpinum Zuoz die Matura absolviert. Danach tourte er als Profi-Snowboarder um die Welt und liess sich zum Journalisten ausbilden. Er arbeitete als Medienkoordinator bei Swiss Ski, Redaktor bei der Engadiner Post und World Cup Organisator bei der Corvatsch AG. Im Sommer 2017 bloggte Franco über seine Erlebnisse als «Chamanna Segantini-Hüttenbub». Die Liebe führte ihn dann in die Stadt Luzern, wo er die Sonne und die Bündner Berge vermisste. Nun lebt er als freischaffender Texter mit Frau und Sohn in Laax.