Foto: Romana Ganzoni
Meine Lieblingszeitung ist die Süddeutsche. Auch da steht nicht immer drin, was ich lesen möchte beziehungsweise was deckungsgleich ist mit meinem momentanen Informationsstand, meiner Interpretation oder Gefühlslage. Wie in allen anderen Zeitungen übrigens auch. Zum Glück! Für mich ist das normal und deshalb meistens nicht der Rede wert, denn die Welt wurde ja nicht nach einem von mir beim Weltgericht eingereichten Schnittmuster entworfen, das beim einzigen Wettbewerb den ersten Platz gewonnen hat. Ich gehe von Reibung aus, als eine der banalsten Lebenserfahrungen. Deshalb würde es mir nicht im Traum einfallen, Leute (welche die üblichen Umgangsformen einhalten) auf den sozialen Medien zu entfreunden, nur weil sie meinen aktuellen Standpunkt nicht teilen, der sich im Verlauf der Zeit eventuell als neuster Stand des Irrtums herausstellt. Trete ich aus der Kirche aus, weil ich finde, sie sollte sich nicht an Abstimmungskämpfen beteiligen, sondern mehr Sorgfalt auf ihr Kerngeschäft verwenden? Nein. Ich anerkenne, was alles geleistet wird, gerade für die Schwachen. Und ich verstehe das politische Engagement. Nichts und niemand deckt all das ab, was ich gerade wünsche - oder ist mein Ebenbild. Schon wieder: Zum Glück! Gefragt, ob er oder sie mit sich selbst verheiratet oder auf Lebzeit (oder auch nur für einige Monate) zusammenleben möchte, sagt ja wohl der Eine oder die Andere: I would prefer not to. Lieber nicht. Nehme ich an. Was beweisen würde, dass Menschen sich als fehlbar (und schwierig) wahrnehmen. Und da sollen die anderen das nicht sein dürfen? Könnten wir Toleranz als das anerkennen, was sie ist: Das Aushalten von dem, was uns so gar nicht in den Kram passt? Zurück zum Anfang und zu meiner Lieblingszeitung, der Süddeutschen, die unter «Stil» über das «Grauwerden», also über weisse Haare, berichtet (graue gibt es nicht). Okay, denke ich. Und ich beginne zu lesen, denn auch ich habe auf meinem Kopf ein paar silberne Haare entdeckt. Finde, das sieht recht gut aus. Aber nicht, weil es «natürlich» ist, sondern weil es gut aussieht. Egal. Nun stolpere ich über einen Zwischentitel: «Nein, nicht jede Frau sieht mit 60 so scharf aus wie Eveline Hall mit 70.» Scheue Frage: Will denn «jede Frau» mit 60, 70 oder 80 «scharf» aussehen? Im nächsten Abschnitt: «Der graue Ansatz steht für alles, was unerwünscht ist. Er ist so unglamourös wie eine herausgewachsene Dauerwelle und taugt nicht als Symbol für Altern in Würde – so weit die einhellige Meinung.» Ambulanz für angewandte Toleranz daher! Mit der Bitte, mich einige Aussagen in vielbesungener Würde ertragen zu lassen, die sich auf engstem Raum einen heftigen Kampf um die goldene Fonduegabel für den grössten Käse liefern. Trotzdem werde ich weiterhin die Süddeutsche lesen. Es ist schliesslich meine Lieblingszeitung.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
Diskutieren Sie mit
anmelden, um Kommentar zu schreiben