Als ich das erste Mal nach Paris reiste - mit 21 -, begleiteten mich zwei Freunde aus dem Kanton Aargau. Wir sassen im Zug, ab Zürich, sie fragten: Kannst Du gut französisch? Na klar, sehr gut, perfekt, sagte ich. In Paris stellte sich dann bereits am Bahnhof heraus, dass meine Freunde sprachlich weit besser dran waren, technisch gesprochen, grösseres Vokabular, korrekte Satzbildung, Grammatik unter Kontrolle. Ihre Aussagen machten wohl ständig Sinn. Ich sprach – aufgeblasen und von provinzieller Selbstsicherheit durchdrungen - trotzdem mehr, in anderem Tempo, spontan und locker, mit Hüftschwung statt mit Hirn. Vielleicht klang das etwas sosolala. Vielleicht sogar sehr. Wenn mir ein Begriff nicht gleich einfiel, sagte ich einfach dingsdübüms. Mein Schamgefühl hielt sich in Grenzen, mir war pudelwohl, so als Französin. Was denn sonst?
Die Erfahrung, eine andere Sprache zu können und das Gegenüber mühelos zu verstehen hatte ich bereits im Tessin gemacht, mit acht oder neun Jahren. Als treue Zuschauerin der Kindersendung «Scacciapensieri» des Tessiner Fernsehens, die auch im Engadin lief, traute ich mir jedes Spiel zu, ich ploderte wie ein Wasserfall mit den einheimischen Kindern aus Arasio, das neben Montagnola lag, Collina d’Oro, hey! Viel später realisierte ich, dass ich mein Romanisch mit italienischen Begriffen (zwei – si, no) aufgemotzt hatte, während meine Spielgefährten dialetto ticinese sprachen, das auch viele Üs enthielt, genau wie mein ladin. Mir fiel der Unterschied nicht auf.
Bestimmt hat mir geholfen, dass ich vallader konnte (jauer und puter verstand) sowie Deutsch – Bündnerdeutsch und Standard aus dem Radio -, ausserdem hatte mir noch keines der tausend Schweizer Dialekte den Schlaf geraubt. Variation und verschiedene Sounds: Das Normalste auf der Welt. Ohr und Zunge waren bereit zur Adaption, prädestiniert für viele Sprachen und Kulturen, nicht nur vier, sondern vier plus. Davon ausgehend hat mich später ein Sprachmix oder Leute, die eine Landessprache nicht in jedem Detail beherrschten nicht im Geringsten gestört, mir reichte es völlig, den Anderen oder die Andere zu verstehen und das gemeinsame CH-Spiel zu spielen: Wir halten uns an ein paar Regeln, an die sich freundliche Menschen eh halten. Und wer davon abweicht, naja, ist auch vorgesehen. Bin ja nicht blöd.
In Arasio wohnten die Schwester meines Vaters und ihr Mann, zio Fausto, mit ihrer Attraktion: zwei Töchter, meine Cousinen. Romana und Irene. Die eine blond und wild, die andere brünett und zurückhaltend. Beide wunderschön und total cool. Modische Schühchen an den Füssen, immer nach dem dernier cri aus Ponte Tresa gekleidet. Von Zeit zu Zeit gelangte ein riesiges Paket voller abgelegter Cousinen-Kleider in die Berge, zu mir! Auch ein Schal mit Goldglöckchen. Ich bewegte mich durch mein Dorf, Scuol, wie eine der mediterranen Schönheiten aus dem Tessin, Italien, Marocco oder Kroatien, die sich alle zwinkernd und klappernd verstanden. Ciao bellas!
Ülala.
Das Ü des dialetto ticinese und des ladin fand ich Jahre später im ganzen Engadin, entlang der Landstrasse, mit kräftiger roter Farbe auf Steine, Unterführungen, Pfosten, in Ecken, auf die Strasse gesprayt, überall glänzte unser ureigenes wundervolles Ü. Steckte da eine Engadiner Guerillera dahinter? Formierte sich eine Unabhängigkeitsbewegung? Ich wollte auf die Liste. Der Schriftsteller Göri Klainguti widmete Phänomen und Buchstaben ein ganzes Buch, es heisst «L’ü». Da war schon klar: Unser Ü gehörte zu der verbotenen Partei der Kurden und Kurdinnen. Es war ihr Zeichen. Eine bedrängte Minderheit, sichtbar im Territorium einer Minderheit, deren Sprache nie verboten war. Vereint im Ü.
Könnte ich kurdisch sprechen? Na klar! Ich kann es bereits, fast perfekt. Hätte ich gesagt mit 21. Vielleicht nicht grad gut, sage ich heute, holprig, aber ich würde mich durchschlagen. Arabisch? Ich habe Freundinnen und Freunde auf Instagram, die arabisch schreiben, ich orientiere mich an den Bildern – und like alles. Kann ich. Lebte ich in einem mediterranen Land (das ich ja längst kenne wegen der Cousinen-Kleider), in Marocco oder Kroatien, ich würde das packen. Mit der neuen Sprache – und der alten. Mein Vorbild: die kroatisch-helvetische Dichterin Dragica Rajcic. Ihre grossen Gedichte. In einem etwas anderen Deutsch, irgendwie falsch sowie richtiger und wahrer als alles andere. Sie hat eine Sprache gefunden, vielleicht die schweizerischste überhaupt.
Die Erfahrung, eine andere Sprache zu können und das Gegenüber mühelos zu verstehen hatte ich bereits im Tessin gemacht, mit acht oder neun Jahren. Als treue Zuschauerin der Kindersendung «Scacciapensieri» des Tessiner Fernsehens, die auch im Engadin lief, traute ich mir jedes Spiel zu, ich ploderte wie ein Wasserfall mit den einheimischen Kindern aus Arasio, das neben Montagnola lag, Collina d’Oro, hey! Viel später realisierte ich, dass ich mein Romanisch mit italienischen Begriffen (zwei – si, no) aufgemotzt hatte, während meine Spielgefährten dialetto ticinese sprachen, das auch viele Üs enthielt, genau wie mein ladin. Mir fiel der Unterschied nicht auf.
Bestimmt hat mir geholfen, dass ich vallader konnte (jauer und puter verstand) sowie Deutsch – Bündnerdeutsch und Standard aus dem Radio -, ausserdem hatte mir noch keines der tausend Schweizer Dialekte den Schlaf geraubt. Variation und verschiedene Sounds: Das Normalste auf der Welt. Ohr und Zunge waren bereit zur Adaption, prädestiniert für viele Sprachen und Kulturen, nicht nur vier, sondern vier plus. Davon ausgehend hat mich später ein Sprachmix oder Leute, die eine Landessprache nicht in jedem Detail beherrschten nicht im Geringsten gestört, mir reichte es völlig, den Anderen oder die Andere zu verstehen und das gemeinsame CH-Spiel zu spielen: Wir halten uns an ein paar Regeln, an die sich freundliche Menschen eh halten. Und wer davon abweicht, naja, ist auch vorgesehen. Bin ja nicht blöd.
In Arasio wohnten die Schwester meines Vaters und ihr Mann, zio Fausto, mit ihrer Attraktion: zwei Töchter, meine Cousinen. Romana und Irene. Die eine blond und wild, die andere brünett und zurückhaltend. Beide wunderschön und total cool. Modische Schühchen an den Füssen, immer nach dem dernier cri aus Ponte Tresa gekleidet. Von Zeit zu Zeit gelangte ein riesiges Paket voller abgelegter Cousinen-Kleider in die Berge, zu mir! Auch ein Schal mit Goldglöckchen. Ich bewegte mich durch mein Dorf, Scuol, wie eine der mediterranen Schönheiten aus dem Tessin, Italien, Marocco oder Kroatien, die sich alle zwinkernd und klappernd verstanden. Ciao bellas!
Ülala.
Das Ü des dialetto ticinese und des ladin fand ich Jahre später im ganzen Engadin, entlang der Landstrasse, mit kräftiger roter Farbe auf Steine, Unterführungen, Pfosten, in Ecken, auf die Strasse gesprayt, überall glänzte unser ureigenes wundervolles Ü. Steckte da eine Engadiner Guerillera dahinter? Formierte sich eine Unabhängigkeitsbewegung? Ich wollte auf die Liste. Der Schriftsteller Göri Klainguti widmete Phänomen und Buchstaben ein ganzes Buch, es heisst «L’ü». Da war schon klar: Unser Ü gehörte zu der verbotenen Partei der Kurden und Kurdinnen. Es war ihr Zeichen. Eine bedrängte Minderheit, sichtbar im Territorium einer Minderheit, deren Sprache nie verboten war. Vereint im Ü.
Könnte ich kurdisch sprechen? Na klar! Ich kann es bereits, fast perfekt. Hätte ich gesagt mit 21. Vielleicht nicht grad gut, sage ich heute, holprig, aber ich würde mich durchschlagen. Arabisch? Ich habe Freundinnen und Freunde auf Instagram, die arabisch schreiben, ich orientiere mich an den Bildern – und like alles. Kann ich. Lebte ich in einem mediterranen Land (das ich ja längst kenne wegen der Cousinen-Kleider), in Marocco oder Kroatien, ich würde das packen. Mit der neuen Sprache – und der alten. Mein Vorbild: die kroatisch-helvetische Dichterin Dragica Rajcic. Ihre grossen Gedichte. In einem etwas anderen Deutsch, irgendwie falsch sowie richtiger und wahrer als alles andere. Sie hat eine Sprache gefunden, vielleicht die schweizerischste überhaupt.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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