Foto: Romana Ganzoni
Kürzlich fragte mich ein Journalist einer Tourismus-Zeitschrift, welchen Ort ich in meinem Dorf, Celerina/Schlarigna, jeder und jedem empfehlen würde, welche Sehenswürdigkeit. Es war ein warmer, schöner Juli-Tag, und ich dachte an den Flussabschnitt, den ich vom Küchenstuhl aus sehe, ich erzählte dem Journalisten also, wie das Wasser, das sich farblich nie festlegt, um die Ecke biegt, und dass neuerdings Menschen bunte Flauschtücher auf der frisch gemähten Wiese am Flussufer auslegen, Klappstühle mit gestreiften Bezügen und Picknickkörbe hinstellen, hoffnungsvoll Gläser heben und stundenlang in Büchern lesen.
Neulich sass ein junger Mann da mit einer Gitarre in der Hand. Die Leute setzen Strohhüte auf, zücken Sonnencremes, lachen, sind vergnügt oder schlafen ein, bis die Sonne weg ist. Das wäre alles nicht der Rede wert, erzählte ich es in Zürich oder Genua. Aber auf 1720 Metern über Meer?
Ab und zu wagt sich ein Mutiger ins Wasser, dann eine Heldin, um gleich wieder rauszuspringen oder um zu verweilen, manche schwimmen gegen den Strom, andere kühlen den Körper nach einer Laufrunde. Und dazu all die Menschen, die zuschauen, sie flanieren, bleiben stehen, gehen weiter. Als wären sie an der Riviera. Allein, in Paaren, Gruppen und Familien, Kinderwagen schiebend, Velofahrerinnen bremsen, eine flucht, kleine, wilde Kinder mit buntem Helm pfeifen vorbei, Dreiräder mit riesiger Hupe, dann kommen die Hunde, frei, an der Leine, phlegmatische und laute, einer wollte nicht mehr weiter. Ich will getragen werden, Mensch! Na klar. Dann der Streuner, der den alten Mann nervt.
Letztes Jahr führte eine elegante, blonde Frau eine dieser kostbaren Katzen, die einem Ozelot gleichen, an einem noblen Halsband vorbei - auf eine Eintritt heischende Art. Doch: Niemand muss bezahlen für Spektakel und alpin-mediterrane Leichtigkeit.
Wie viel mehr und anderes liesse sich noch sagen über einen einzigen Abschnitt dieses grossen Flusses, den ich vom Küchenstuhl aus sehe, lieber Journalist einer Tourismus-Zeitschrift. Zum Beispiel über die «Bauncha», den historisch-restaurierten, bedachten Waschsteg neben Brunnen und Sitzbank, er zwinkert den Badeleuten am Ufer zu und den Spazierenden und sagt, ja, genau, hier gehört das soziale Leben und die Sexyness des Dorfes hin, ihr habt es erfasst.Das und noch mehr erzählte ich dem Journalisten, bis er mir sagte, mein Hinweis werde im Winter erscheinen. Ach, so. Ich rollte mental die Flauschtücher zusammen, bat die Badelustigen in meinem Kopf, ihre Picknickkörbe und Klappstühle nicht zu vergessen, wenn sie nach Hause gehen – und fand einen anderen Ort, den ich in meinem Dorf bei jeder Saison empfehle. Er liegt auf einer Hausmauer eingangs der via San Gian, unweit des Coop, es ist ein Sgraffito, ein knallgelber Kanarienvogel, der ewig-freche «canarin» (mit Betonung auf dem «i», als wäre es sein Gesang) des Künstlers, auch Mitbegründer des Kulturarchivs Oberengadin, Giuliano Pedretti, der im Januar 2012 starb.
Der Vogel sagt, ach, was, Giuliano lebt, schaut mich an, ich pfeife noch lange sein Lied. Und nicht nur das. Der lustige Vogel weist für mich auf alle Künstlerinnen und Künstler hin, vor allem aber auf die ruma(u)ntsch sprechenden, die unverdrossen ihr Lied pfeifen in Dorf und Tal – und ganz besonders auf die hier ansässige Familie Pedretti, auf Giulianos Vater, den bedeutenden Maler Turo, seine Schwägerin Erica, Schrifstellerin und Künstlerin von Rang, und auf ihr Mann, Giulianos Bruder, Gian, der ebenfalls Maler ist.
Ein Zusatz, der mich speziell poetisiert: Giuliano Pedretti hat, wie es scheint, Illustrationen zum Erzählband mit dem Titel „Il canarin“ des begabten und schillernden Schriftstellers Artur Caflisch aus Zuoz gemacht, unter den Illustrationen ist kein Kanarienvogel, der ist noch ganz Wort, aber schauen Sie sich das Gelb des Titelbandes an! Jahre später prangt ein vorlauter kleiner Vogel in dieser Farbe an einem Haus, als wäre aus dem Wort Fleisch und Feder geworden, der Piepmatz erinnert uns nicht nur an unsere eigene Lebendigkeit, und dass wir alle schräge Vögel sind, sondern weist darüber hinaus, er erinnert uns auch daran, wie viele Menschen im Oberengadin Inspiration gefunden haben – und, dass wir ohne Kunst und Literatur aufgeschmissen wären.
Naja, gut, wir hätten immer noch die Kids mit buntem Helm, die auf dem Dreirad mit der grossen Hupe vorbeipfeifen.
Neulich sass ein junger Mann da mit einer Gitarre in der Hand. Die Leute setzen Strohhüte auf, zücken Sonnencremes, lachen, sind vergnügt oder schlafen ein, bis die Sonne weg ist. Das wäre alles nicht der Rede wert, erzählte ich es in Zürich oder Genua. Aber auf 1720 Metern über Meer?
Ab und zu wagt sich ein Mutiger ins Wasser, dann eine Heldin, um gleich wieder rauszuspringen oder um zu verweilen, manche schwimmen gegen den Strom, andere kühlen den Körper nach einer Laufrunde. Und dazu all die Menschen, die zuschauen, sie flanieren, bleiben stehen, gehen weiter. Als wären sie an der Riviera. Allein, in Paaren, Gruppen und Familien, Kinderwagen schiebend, Velofahrerinnen bremsen, eine flucht, kleine, wilde Kinder mit buntem Helm pfeifen vorbei, Dreiräder mit riesiger Hupe, dann kommen die Hunde, frei, an der Leine, phlegmatische und laute, einer wollte nicht mehr weiter. Ich will getragen werden, Mensch! Na klar. Dann der Streuner, der den alten Mann nervt.
Letztes Jahr führte eine elegante, blonde Frau eine dieser kostbaren Katzen, die einem Ozelot gleichen, an einem noblen Halsband vorbei - auf eine Eintritt heischende Art. Doch: Niemand muss bezahlen für Spektakel und alpin-mediterrane Leichtigkeit.
Wie viel mehr und anderes liesse sich noch sagen über einen einzigen Abschnitt dieses grossen Flusses, den ich vom Küchenstuhl aus sehe, lieber Journalist einer Tourismus-Zeitschrift. Zum Beispiel über die «Bauncha», den historisch-restaurierten, bedachten Waschsteg neben Brunnen und Sitzbank, er zwinkert den Badeleuten am Ufer zu und den Spazierenden und sagt, ja, genau, hier gehört das soziale Leben und die Sexyness des Dorfes hin, ihr habt es erfasst.Das und noch mehr erzählte ich dem Journalisten, bis er mir sagte, mein Hinweis werde im Winter erscheinen. Ach, so. Ich rollte mental die Flauschtücher zusammen, bat die Badelustigen in meinem Kopf, ihre Picknickkörbe und Klappstühle nicht zu vergessen, wenn sie nach Hause gehen – und fand einen anderen Ort, den ich in meinem Dorf bei jeder Saison empfehle. Er liegt auf einer Hausmauer eingangs der via San Gian, unweit des Coop, es ist ein Sgraffito, ein knallgelber Kanarienvogel, der ewig-freche «canarin» (mit Betonung auf dem «i», als wäre es sein Gesang) des Künstlers, auch Mitbegründer des Kulturarchivs Oberengadin, Giuliano Pedretti, der im Januar 2012 starb.
Der Vogel sagt, ach, was, Giuliano lebt, schaut mich an, ich pfeife noch lange sein Lied. Und nicht nur das. Der lustige Vogel weist für mich auf alle Künstlerinnen und Künstler hin, vor allem aber auf die ruma(u)ntsch sprechenden, die unverdrossen ihr Lied pfeifen in Dorf und Tal – und ganz besonders auf die hier ansässige Familie Pedretti, auf Giulianos Vater, den bedeutenden Maler Turo, seine Schwägerin Erica, Schrifstellerin und Künstlerin von Rang, und auf ihr Mann, Giulianos Bruder, Gian, der ebenfalls Maler ist.
Ein Zusatz, der mich speziell poetisiert: Giuliano Pedretti hat, wie es scheint, Illustrationen zum Erzählband mit dem Titel „Il canarin“ des begabten und schillernden Schriftstellers Artur Caflisch aus Zuoz gemacht, unter den Illustrationen ist kein Kanarienvogel, der ist noch ganz Wort, aber schauen Sie sich das Gelb des Titelbandes an! Jahre später prangt ein vorlauter kleiner Vogel in dieser Farbe an einem Haus, als wäre aus dem Wort Fleisch und Feder geworden, der Piepmatz erinnert uns nicht nur an unsere eigene Lebendigkeit, und dass wir alle schräge Vögel sind, sondern weist darüber hinaus, er erinnert uns auch daran, wie viele Menschen im Oberengadin Inspiration gefunden haben – und, dass wir ohne Kunst und Literatur aufgeschmissen wären.
Naja, gut, wir hätten immer noch die Kids mit buntem Helm, die auf dem Dreirad mit der grossen Hupe vorbeipfeifen.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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