03.11.2021 Romana Ganzoni 3 min

Diese Woche, am Montag, 1. November, kam der Schnee. Nach dem Mittagessen. Ist jetzt Winter? Noch nicht. Herbst? Irgendwie. Aber nicht mehr ganz. Dazu gehörte das Gelb der Lärchen. Zwischensaison also? Auch so ein grobes Wort. Kigo eventuell? Kigo heisst „das Jahreszeitwort“. Damit operiert die japanische Poesie. Der einfachste Bezug sind die Namen der traditionellen Haupt-Jahreszeiten, Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Sie werden in Gedichte, den Haikus, oder in Kettenreime, Renga genannt, integriert, als klare temporale Zuordnung mit vordefinierten Bildern und Vorstellungen. Frühlings-Kigos sind die legendäre Kirschblüte, aber auch das schlichte Wort Blüte und deren Betrachtung sowie Frühlingsnebel und -dunst und der erste starke Südwind. Einige Singvögel sind dabei: Japanbuschsänger, Lerche und Schwalbe. Deren Gesang und das Wort „zwitschern“ bilden ein eigenes Kigo. Der Regen hingegen steht in Japan für Sommer, Herbstlaub und Mond für Herbst, der Schnee ist ein klassisches Winter-Kigo, das Frösteln hervorruft, im Gedicht herrscht eine trostlose Atmosphäre des Rückzugs, mit gefallenen und trockenen Blättern, auch das Schneebetrachten gehört zum Konzept, in Analogie zur Blütenbetrachtung, eine beliebte Gruppenaktivität in Japan. Ausserdem Kalenderverkäufer vor dem Jahreswechsel und Gerichte, wie Fugu-Suppe, Seeteufeleintopf, Austern. Im Engadin wären es wohl Wildkarte und Pilze, die vor dem Schneefall in die Küche gerettet werden konnten. Auch Preiselbeeren – und Kompott. Die japanische Vorstellung differenziert die vier Jahreszeiten für die poetische, aber auch für die gefühlte Welt weiter in eine frühe, mittlere und späte Periode, das Frühjahr kennt demnach den zeitigen Frühling, die Mitte des Frühlings, den späten Frühling, den zeitigen Sommer und so weiter. Insgesamt zwölf Jahresabschnitte. In China sind es doppelt so viele, vierundzwanzig, zwei pro Monat. Und alle haben einen Namen: Regenwasser, das Erwachen der Insekten, Frühlingsäquinoktium, das helle Licht, der Saatregen, Sommerbeginn, Ährenbildung, Körner mit Grannen, Sommersolstitium, mässige Hitze, grosse Hitze, Herbstbeginn, das Ende der Hitze, der weisse Tau, Herbstäquinoktium, der kalte Tau, Reiffall, Winterbeginn, mässiger Schnee, der grosse Schnee, Wintersolstitium, die mässige Kälte, die grosse Kälte. Unsre Hochsaison beginnt nicht mit dem mässigen, sondern mit dem grossen Schnee, die Zwischensaison hört auf mit dessen Rückzug. Alles hängt schon bald am kühlen Material, aus feinen Eiskristallen gemacht, worauf der Mensch mit seinen vielen Erfindungen zum Anschnallen und Liegen und Sitzen fährt und geht und rutscht und rast. Womit er baut und formt, wattiert, umhüllt und wirft und kühlt und prahlt, er lässt sich hineinfallen, suhlt sich darin. Und ist dieser Schnee nicht willig, so braucht der Mensch Kanonen, er schiesst ins braune Feld, auf dass es die einzige Farbe annehme, die erlaubt ist ab November. Ein seltsames Wort, Schneekanone. Kanonen sind doch nur noch historisch relevant, als Exponate, sie verrosten vor dem Landesmuseum, Kinder sitzen darauf, als wollten sie auf einer Kanonenkugel durch die Weltgeschichte zischen, wie Baron Münchhausen, der sich nach eigener Erzählung „vor lauter Mut und Diensteifer“ auf eine Kugel setzte, um dann in der Luft wieder umzusatteln, in die Gegenrichtung. Nein, nein, es gibt neuerdings auch Konfettikanonen, meine heisst: Party Cannon. Fluo Strips. Ich habe sie geschenkt bekommen und bin mit dem Wort „Kanone“ seither mehr als versöhnt.  

Romana Ganzoni

Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.