Foto: Romana Ganzoni
Über den Silsersee gleiten Ende Jahr? Er war gefroren und schneefrei. Gleitend streckte ich die Arme aus. So fühlt sich fliegen an, dachte ich. Und ich fühlte es. Es war wie in einem Flug- und Schwebetraum: echt. Reales Abheben. Ein Wesen der Luft und des Luftigen werden. Leicht wie ein Spatz. Zwischen Himmel und Erde. Ohne Bekenntnisse. Ohne Rechtfertigung. In der flirrenden Musik des Sees, der sich zum Ufer streckt und an sich selbst zieht, rundum und quer hindurch. Er lebt. Nicht nur den Rissen entlang, die wie Seufzer sind. Er lebt in den hingestreuten und gestaffelten Eisblumen und in den schwarzen Aderungen, die sich abwechseln mit den zuckrigen Spuren der Kufen. Ab und zu eine Spitzendecke, ausgebreitet wie ein kleines Gedeck auf dem riesigen Spiegel aus Obsidian: Vulkanglas, das aus der Tiefe aufgestiegen ist, über Nacht. Erdgeschichte statt Geschichte, die sich auflöste in meinem Flug. Er endete, als ich einem Schlittschuhläufer ausweichen musste. Ich setzte neu an, schaute nach oben, dann auf das Eis. Ich war kein Spatz mehr, ich war eine Betrachterin. Ich betrachtete die etruskischen Spiegel in der Ausstellung des archäologischen Museums. In Bronze geritzte Szenen mit dem Strich eines Picasso, aber inniger und wärmer. Niemand konnte mir sagen, wie die Politur ursprünglich aussah, wie Reflexion eingefangen wurde. Waren dies Handspiegel so wie wir sie verstehen? Ich sah in ihnen nicht mein Gesicht, sondern Kunst von überragender Schönheit, die den besten Teil in mir zeigte. Der beste Teil trat beim Betrachten ganz nach vorne, wie auf dem gefrorenen Silsersee, über den ich Ende Jahr glitt und meine Inschrift hinterliess. Neben vielen anderen. Das Wort «Kaltnadelradierung» stieg in mir hoch und Bilder von Hans Hartung, 1904 in Leipzig geboren. Künstler und Fremdenlegionär. In der Ambulanz lag er unter einem schwer verletzten Soldaten. Hartung war getränkt mit dessen Blut, als endlich die Türen aufsprangen. Der Soldat war tot. Hartung lebte, auch schwer verletzt. Das Bein wurde ihm in zwei Schritten amputiert, ohne Narkose. Und alle seine Werke waren verloren. Zehn Jahre schwieg er. Dann kamen Chancen in Paris, die grosse Liebe – dieses Mal für immer -, Schaffenslust, Kraft, Anerkennung und Glück. Ich weiss nicht, was unwahrscheinlicher ist: Biographien, Zauberspiegel oder Menschen, die fliegen können.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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