10.08.2016 Dominik Brülisauer 4 min
Bild: Dominik Brülisauer

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Wenn man im Engadin mit dem Auto unterwegs ist, begegnet man früher oder später einem Jäger. Das ist so sicher, wie man in den Ferien auf Kreta seine Nachbarn trifft oder an der Erotikmesse Extasia seine Chefin. Die Jäger stehen am Strassenrand und observieren mit ihren Feldstechern die umliegenden Berghänge. Beim sogenannten Spiegeln wird abgecheckt, in welchen Tälern und Wäldern die Wildtiere gerade rumlümmeln. Weil ein Jäger nicht nur während der Jagdsaison Jäger ist, sondern das ganze Jahr über, trägt er auch während dem Spiegeln seine typischen Tarnfarben. Das ist umso lustiger, wenn er sich dabei lässig über seinen knallroten Subaru Forester lehnt und gleichzeitig aus voller Lautstärke «Zehn kleine Jägermeister» aus dem Autoradio dröhnt. Engadiner Jäger sind keine schiesswütigen Cowboys, die auf alles ballern, was sich bewegt. Sie sind wahre Tierfreunde. Das klingt gleich verwirrend, wie wenn der türkische Autokrat Erdogan behaupten würde, er sei ein Fan der Pressefreiheit. Aber die Jäger sorgen dafür, dass sich keine Krankheiten ausbreiten, die Tiere im Winter genug Nahrung haben und die Schwachen eliminiert werden. Wir Engadiner sind also so selbstständig, dass wir sogar die Evolution in die eigenen Hände nehmen. Dass man zu diesem Zweck eine Waffe braucht, finden selbst unsere Jäger unerfreulich. Auch sie hätten es lieber, wenn sich die überzähligen Tiere bei einer Exit-Stelle melden und unter tierärztlicher Aufsicht mit einem Medikamentencocktail und würdiger Jagdhornbegleitung ins Jenseits befördert werden könnten. Weil die Jäger oft missverstanden werden, machen sie in zahlreichen Kampagnen immer wieder für ihre Zunft Werbung. Beim Jagdinspektorat Oberengadin kann man momentan folgende lustige Autoaufkleber bestellen: «Für weniger Dichtestress im Wald», «Schiess mal eine ruhige Kugel», «Der beste Treffpunkt ist zwischen den Augen», «Null Bock kenn ich nicht», «Jäger und Trophäensammler» oder «Ich finde Rehe zum Schiessen». Nebenbei gibt es den Tag des offenen Waldes, bei dem Kinder und andere Laien unter professioneller Aufsicht mal ein paar Schüsse auf ein Tier nach Wahl abgeben können. Jäger wird man nicht einfach so. Die Anforderungen sind höher als an einen Herzchirurgen, an einen Linienpiloten oder an den Pressesprecher der FIFA. In der Jagdschule lernt man, wie man auf bis zu 35 Meter einen Rothirsch von einem Traktor unterscheiden kann, man muss mit seinem Abzug-Zeigefinger zehn Klimmzüge schaffen und einen Grundkurs in Rhetorik bestehen. In diesem lernt man, wie man ein erlegtes Eichhörnchen glaubwürdig zu einem erlegten feuerspeienden Steinbock mit Adlerflügeln, Sixpack und rasiermesserscharfen Hörnern aus Titanium aufblasen kann. Schliesslich verbringt der Engadiner Jäger 95% seiner Zeit am Stammtisch. Hier jagt er keine Wildtiere, sondern Komplimente. Mythos, Legenden und gutes Storytelling sind elementare Bestandteile der Jagd. Die Benchmark hat die sagenumworbene Engadiner Jägerikone Gian Marchet Colani (1772 – 1837) gesetzt. Angeblich hat er mehr Lebewesen ausgelöscht, als alle biblischen Plagen zusammengezählt. Im Vergleich zu Colanis Biographie liest sich das Alte Testament wie ein Papa-Moll-Buch. Über 2700 Gämsen soll er abgeknallt haben, 93 davon an einem einzigen Tag. Heute würde man so ein Verhalten als psychopathologisch diagnostizieren. Aber damals gab es einfach noch keine Schlachthöfe, die in Massenhaltung gemästete Tiere industriell zu Lebensmittel verarbeiten konnten. Da sind wir heute schon viel besser. Im Engadin wird akribisch genau Buchhaltung darüber geführt, wie viele Tiere durch unsere Wälder streifen, wie alt sie sind, wie sie sich benehmen oder was ihre sexuellen Präferenzen sind. Aufgrund dieser Daten wird ein Abschussplan erstellt. Systematisch erlegen die Jäger im September während der Hochjagd Hirsche, Rehe und Gämse, und im Oktober und November auf der Niederjagd Hasen, Dachse, Füchse und Vögel. Die seltenen Bären werden von der RhB das ganze Jahr über erledigt. Damit die Wildtiere nicht in den Dauerstress kommen, gibt es Schutzgebiete. Hier können sie von keinem Jäger ins Visier genommen werden. Diese Rückzugsgebiete haben also etwa die gleiche Funktion wie Frauenbadis. Wer immer noch nicht vom Sinn und Zweck der Jagd überzeugt ist, der soll sich mal während der Jagdsaison einen anständigen Hirschpfeffer oder einen feinen Rehrücken gönnen. Ich wünsche Waidmannsheil und guten Appetit.

Dominik Brülisauer

Dominik Brülisauer ist 1977 geboren und in Pontresina aufgewachsen. An der ZHDK in Zürich hat er Theorie für Kunst, Medien und Design studiert. Momentan arbeitet er als Werbetexter, Kolumnist und Schriftsteller in Zürich. Die Bücher «Schallwellenreiter», «Der wahre Liebeslebensratgeber» und «Leben kann jeder» sind im Handel erhältlich. Er besucht das Engadin heute noch regelmässig um im Pöstli Bier zu trinken, auf der Diavolezza zu Snowboarden und um seiner Mutter seine Wäsche abzugeben.
facebook.com/dominikbruelisauer