In letzter Zeit denke ich oft an Christoph Kolumbus. Gerne würde ich ihn fragen, wie er sich dabei gefühlt hat, tagelang aufs Ungewisse zuzusegeln, in die Leere hin – geradeaus. Ich würde ihn gerne fragen, wie oft er sich während dieser Reise zweifelnd an seiner Stirn gekratzt hat. Wie oft ihn jemand aus seiner Crew aufgefordert hat umzukehren, weil die Lage aussichtslos schien. Ich würde gerne wissen, wieso er nicht umgekehrt ist, dort auf hoher See, haltlos einer Vision folgend. Was hat ihm die Kraft gegeben, trotz aller Zweifel und Ängste - weiter geradeaus zu segeln? In letzter Zeit denke ich oft an Christoph Kolumbus, weil es eben nicht so einfach ist wie die moderne Welt uns glaubhaft machen möchte: «Lebe deine Träume, Folge deinem Herzen ... u.s.w». Überall steht sowas. Auf Teetassen, T-Shirts und Taschen. Den Beweis dafür, dass es auch noch einfach ist es umzusetzen, finden wir tagtäglich auf Social Media. In Buchläden werden sogar ganze Regale mit Ratgebern darüber gefüllt, worin endlos erklärt wird, wie wir uns alles was wir uns wünschen, erfüllen können. Einige Bücher behaupten sogar, dies würde ganz einfach und schnell gehen. Wer es nicht kann, glaubt einfach zu wenig an sich selbst. Doch jeder, der nur ansatzweise versucht seine Träume zu verwirklichen weiss – es hat seinen Preis. Wieso diese Tatsache hinter locker-klingenden Teebeutel-Weisheiten verschleiert wird, ist mir ein Rätsel. Uns allen hängt die Zunge ab und zu vor Anstrengung, Ungeduld und Schmerz zum rechten Mundwinkel heraus. Was nicht heisst, dass man zwingend aufgeben muss. Vielleicht kannte Christoph Kolumbus das Geheimnis der inneren Stärke? Ich persönlich würde mir wünschen, dass es mehr Selfies auf Social Media von Personen mit heraushängender Zunge geben würde. #Resilienz. Wenn ich mich in solch einer Situation befinde, denke ich an Christoph Kolumbus und geh weiter in die einzige mögliche Richtung: Geradeaus!
Bibi Vaplan
Bibi Vaplan (geboren 1979) ist im Engadin aufgewachsen. Das Klavierstudium an der Zürcher Hochschule der Künste schloss sie 2005 mit dem Lehrdiplom ab. Schon während des Studiums komponierte sie für Filme und Theater (u.a. für Vitus). Stilistische Grenzen waren schon immer ein willkommener Grund, über den Zaun zu schauen. Bibi Vaplans Konzerte und ihre mediale Präsenz, zum Beispiel im «Kulturplatz», bei «Glanz und Gloria» oder auf dem Traktor unterwegs für «Jeder Rappen zählt!» machten die Engadiner Künstlerin schweizweit bekannt. Ihr neuestes Projekt, die «Popcorn-Opera» startete am 6. November 2020.
Diskutieren Sie mit
anmelden, um Kommentar zu schreiben