Der Blick über Zürich. Foto: Valentina Baumann
Ich lebe nun seit etwas mehr als einem Monat in Zürich – ein Ort, der anders als das Engadin nicht sein könnte. Während dieser Zeit habe ich tausend Erfahrungen gemacht, meistens nur gute, ein paar wenige mühsame, manche waren unerwartet und so einige ziemlich amüsant. Direkt schockiert hat mich die Temperatur hier. Schon Mitte März herrschen im Unterland zwanzig Grad, die Wiesen sind natürlich schon lange grün und die Bäume blühen alle schon. Jeden Abend kann man einen wunderbaren orange erleuchteten Himmel betrachten, die Sonne verschwindet nicht direkt hinter den Bergen. Den Kaffee morgens geniesse ich natürlich auf dem Balkon – im Pyjama – und das ohne direkt eintreffenden Erfrierungstod. Einziger Nachteil: Meine Übergangsjacken, die angebracht sind für Engadiner Temperaturen, sind mir natürlich viel zu warm, daher musste ich mir neulich eine neue kaufen. Als nächstes werden denn man meine Rollenkragenpullis ausgetauscht. Und zwar schleunigst. Was mich auch aus den Socken gehauen hat, sind die Zugverbindungen. Ziemlich schnell habe ich mir abgewöhnt, Zugzeiten online nachzuschauen. Ich begebe mich ohne Plan an den Bahnhof und schaue ohne jeglichen Stress auf die Abfahrtstafeln. Alle drei bis fünf Minuten fährt ein Zug dahin, wo ich hinmuss. So etwas wie den Zug zu verpassen gibt es für mich nicht mehr und rettet mir – die immer zwei Minuten zu spät ist, egal was sie macht – regelrecht das Leben. Ich denke ich komme nicht darum herum, unseren Bündner Dialekt zu erwähnen. Ich dachte immer es gibt Leute, die einen starken Bündner Dialekt haben. Diese sagen zum Beispiel «I kuma varrukt» und verwenden besonders viele K’s und A’s. Ich nicht, dachte ich. Und doch wird mir immer wieder «Das hört man» gesagt, wenn ich erkläre, dass ich aus Graubünden komme. Und dann werde ich jedes Mal gefragt, ob ich «Räto»-Romanisch kann. Das hat mich auch ein Beamter des Einwohneramtes gefragt, als ich ihm ein Formular aus Celerina/Schlarigna überreicht habe. Und wenn ich dann bejahe, erhalte ich immer ein «Woah, cool». Mein Nebenfach an der Universität ist übrigens «Vergleichende Romanische Sprachwissenschaft» und im einführenden Modul bin ich die Einzige, die fliessend Romanisch spricht, was mich natürlich gleich zu einer der Lieblingsstudenten des Professors gemacht hat, hehe. Auch von ihm wurde ich gefragt, wo ich genau her sei, als ich den Vorstellungsrunde «aus dem Engadin» gesagt habe. Wie immer habe ich «Kennen Sie St. Moritz? Gleich daneben, das Dorf heisst Celerina» geantwortet. Und zu meiner Überraschung hat er mir schmunzelnd «Ja, Schlarigna» geantwortet. Als ich dann mal auf seinen Desktop geschielt habe, habe ich sein Hintergrundbild – den St. Moritzersee und das Hotel Waldhaus – gesehen. Ich denke ich muss noch ein, zwei Dinge erwähnen, die mich an Zürich genervt haben. Erstens: Ohne WLAN ist man als ahnungsloses Landei völlig aufgeschmissen, wenn man sich in diesem Labyrinth von Strassen zurechtfinden will. Ohne Google Maps hätte ich in der ersten Woche nämlich gar nichts gefunden. Auch zu Hause haben wir kein WLAN, was das Studieren ziemlich unmöglich gemacht hätte. Also musste ich – die wahrscheinlich letzte Person auf diesem Planeten ist, die noch ein Prepaid-Handy hatte – direkt zu Sunrise rennen und mir ein Handyabo kaufen. Zweiter Punkt: In Zürich, mit hundert Mal mehr Einwohnern, läuft hin und wieder jemand Verrücktes herum. So zum Beispiel Leute, die sich im Bus sitzend mit drei imaginären Leuten unterhalten oder welche, die sich breitbeinig an den Bahnhof stellen und rumkreischen. Und zum Schluss: Diese – oder eigentlich jede Stadt – hat so viele verlockende Geschäfte, die einem das ganze Geld aus der Tasche ziehen wollen. Zuerst haben meine Augen schon ein bisschen aufgeleuchtet. Aber besonders Kaffee-to-go-Kosten häufen sich rasend schnell, wie ich zähneknirschend schnell festgestellt habe, und machen einer Studentin mit begrenztem Budget echt das Leben schwer. Deshalb trinke ich meinen Kaffee immer zu Hause. Falls Sie zum Abschluss noch eine Zusammenfassung von mir haben wollen: Zürich ist toll und schön warm. Ich mag Zürich.
Valentina Baumann
Valentina Baumann ist 19 Jahre alt und in Celerina aufgewachsen. Im Sommer 2021 hat sie die Matura am Lyceum Alpinum in Zuoz gemacht und ist danach für sechs Monate in die redaktionelle Welt der Engadiner Post eingetaucht. Das neugewonnene Wissen hat sie an die Universität Zürich mitgenommen, wo sie Medienforschung studiert. Obwohl sie vieles, ihre beiden Katzen zum Beispiel, im Engadin zurücklassen muss, freut sie sich über Ballettaufführungen, riesige Universitätsbibliotheken, die Bücherwurmherzen höherschlagen lassen, Katzen-Kaffees, doppelstöckige Züge, Trenchcoat tragende Leute und alles Neue, was ihr die Grossstadt bieten kann.
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