23.08.2016 Romana Ganzoni 3 min
Fotos: Romana Ganzoni

Fotos: Romana Ganzoni

«Meine Idee ist, dass das Schreiben selbst zur Droge wird, die Substitution der Substitution. Und die Schwierigkeit ist, dass das Schreiben zwangsläufig etwas bedeuten muss, es versucht, zum Ursprung eines Giftes zurückzugehen, das auch Heilmittel ist.» (Catherine Safonoff, Der Bergmann und der Kanarienvogel) Schaut Euch den Umschlag an! Der kleine Vogel darauf erinnert mich an den «canarin», den Kanarienvogel um die Ecke. Der sitzt auf einem Engadiner Fenster zur Gasse hin, das letzte Sgrafitto des Celeriner Künstlers Giuliano Pedretti, bevor er auf der Dorfstrasse von einem Auto angefahren wurde und im Spital an den geringfügigen Verletzungen starb.

Wenn Giuliano Pedretti mit achtzig Jahren lachte, war er ein strahlender 14-jähriger Bub. Wenn Catherine Safonoff schreibt, ist sie eine junge Frau, nicht älter als 28, voller Temperament und Träume.  Pedrettis «canarin» grüsst mich täglich, immer frech und vorlaut. Seelenvögel können forsch sein, mir scheint, derjenige von Catherine Safonoff ist es auch. Vielleicht meine ich das nur, weil ihre Ich-Erzählerin ein lustiger, ein listiger, ein frischer, ein verspielter (und ein trauriger) Vogel ist. Was weiss ich schon über ihren Seelenvogel?  Das, was ich weiss, erzählt sie mir selbst, wenn sie mit knallgelben Stiefeletten aus der teuren Boutique zum Psychiater an die Rue Blanche geht. Sie nennt ihn Doktor Ursus. Wie denn sonst? Der Bär steht für das Begehren, an das mich auch der Bergmann erinnert. Bergmann und Begehren. Klingend. Der Vogel als Licht darüber. Er kippt im Bergwerk als erster vom Stängeli, wenn der Sauerstoff knapp wird. In der Einleitung heisst es dazu: «Mit ihrem Buch...begibt sich C. S. auch unter Tage, hinein in das Bergwerk des Lebens.» Dorthin nimmt sie uns mit. Die Ich-Erzählerin stellt mit scharfem und zärtlichem Blick ihren Alltag vor, ihren Garten, ihre Lektüre, ihre Freundinnen, ihre Liebhaber, ihre Eltern. Mutter und Vater, prägende Figuren, die Sprache zulassen oder nicht, die ein gehobenes Französisch sprechen (die Mutter) oder fluchen und schlagen (der Vater), die anders schweigen, aus anderen Gründen, mit anderen Konsequenzen.  Das Gegenstück zu Doktor Ursus ist Armand, der neunjährige Knabe, dem die Ich-Erzählerin Nachhilfe in Französisch erteilt. Das Kind ist während der Lektionen so trotzig und liebenswert wie die Frau mit den gelben Stiefeletten in den Sitzungen beim Psychiater, in den sie sich verliebt.  Wenn ich grosse und nicht mehr ganz junge Autoren wie Martin Walser, Botho Strauss oder Adolf Muschg lese, kneife ich während der Sex-Szenen immer die Augen zusammen, sie sind mir peinlich. Catherine Safonoff (Jahrgang 1939) schreibt mit Leichtigkeit und einnehmendem Selbstverständnis über Begehren, Lust und Sex. Ich kneife nicht die Augen zu, das wäre ganz schön dumm, ich reisse sie auf und lese die Passagen langsam. Ebenfalls langsam lese ich die Passagen über das Altern einer Frau. Sie sind gnadenlos. Etwas vom Besten, das ich dazu gelesen habe, d.h. das Beste, ich erinnere mich gerade nicht an einen Text, der mich diesbezüglich weitergebracht hätte. Und, ja, ich zitiere mit Absicht nicht. Safonoffs Gedanken entfalten ihre Kraft nur als Teil der Reise ins Innere der Welt.  Den ISBN verrate ich: 978-3-85869-643-4

Romana Ganzoni

Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.