Neulich spazierte ich durch die Stadt Luzern und plötzlich wurde mir bewusst: Ich hab Heimweh, Heimweh nach den Bündner Bergen. Ein Gefühl, das ich bislang nicht kannte. Darum suchte ich mir ein nettes Plätzchen am Vierwaldstättersee, um darüber nachzudenken. Ich setzte mich auf eine freie Bank, die nicht einfach zu finden war, und blickte über den See. Was für ein schönes Panorama mit weiss leuchtenden Bergen im Hintergrund, dachte ich mir. In der Zentralschweiz hat es richtig schöne und spektakuläre Berge wie zum Beispiel der bekannte Pilatus und die Rigi, der grosse und kleine Mythen oder der weniger bekannte, aber umso imposantere Bristen. Und steil sind die Berge hier, viel steiler als in Graubünden, wie ich schon bei manch einer Wanderung hatte feststellen müssen. Die Berge sind auch nicht allzu weit weg von der Stadt. In weniger als einer Stunde erreiche ich verschiedene Ski- und Langlaufgebiete. Selbst der weltbeste Skifahrer kommt aus dieser Gegend und nicht etwa aus Graubünden. Darum – also nicht wegen Marco Odermatt, sondern weil die Berge nah sind – bin ich gerne nach Luzern gezogen. Hier finde ich alles, was die Schweiz zu bieten hat: Berge, Seen und eine charmante Stadt mit einem reichhaltigen Angebot. Meine Seele, was willst du mehr? fragte ich mich. Da fiel mir eine Übung aus meiner Studienzeit in Zürich ein. Während eines Kurses, ich weiss nicht mehr zu welchem Thema, mussten wir einen Baum auf ein Blatt Papier zeichnen, schnell und nur schematisch. Ich skizierte einen Tannenbaum: Zacken, die oben schmal waren und langsam breiter wurden. Einen Baum halt. Als wir die Zeichnungen untereinander verglichen, hatte bloss ich einen Baum mit Zacken gekritzelt, alle anderen hatten runde Bäume gezeichnet, Obstbäume mit runder Baumkrone. Interessant, nicht wahr? Die Landschaft, in der ich aufgewachsen bin, hat mein Denken beeinflusst und meine Idee eines Baumes definiert – eine Idee, die von der Mehrheit abweicht. Ich, der mit den Ecken und Zacken; die anderen, die sich drehen und kreisen. Was das nur zu bedeuten hat? Wie auch immer, die Landschaft des Engadins hat mich jedenfalls stark geprägt. Die grossen Wälder, in denen wilde Tiere leben. Die Berge und Täler, die man tagelang durchstreifen kann ohne auf viele Leute zu treffen. Die langen Winter und die kalten Sommer. Und auch die Bergbahnen, die quasi direkt vor der Haustüre liegen. In Luzern ist das natürlich anders. Ich muss mit dem Auto, Zug oder Bus zu den Bergen fahren. Dann finde ich schöne und auch unberührte Natur, die aber oft aus engen Tälern und steilen Flanken und Matten besteht. Was mir hier fehlt, ist die Weite und das Gefühl von Wildnis, wie man es in Graubünden und insbesondere im Engadin findet. Es gibt Leute, die sagen: Heimat ist dort, wo man sich wohlfühlt. Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Doch womöglich sind sie nicht in einer Gegend aufgewachsen, die einen so prägt wie das Engadin. Ich bin jedenfalls froh, dass ich weiss, wo meine Heimat liegt und bleibt. Solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich am See sass unter bereits blühenden Bäumen, deren Name ich nicht kenne. Wie schön und farbenfroh der Frühling im sogenannten Unterland doch ist, während im Engadin die braune Jahreszeit begonnen hat und höchstens ein paar Minchülettas ihre bescheidenen Köpfchen aus der Erde strecken. Ein eigenartiger Zeitpunkt, um Heimweh zu haben. Im Winter, wenn der Nebel drückt, kann es jeder und jede verstehen, aber jetzt im Frühling, wenn alles blüht!? Vielleicht hat mein Anflug von Heimweh auch damit zu tun, dass mich die Leute ständig fragen: Und, bist du gut angekommen in Luzern? Ich habe bislang stets mit Ja geantwortet, denn ich fühl mich wohl hier. Wir haben eine tolle Wohnung in einem guten Quartier, die Nachbarn sind alle nett, ich habe neue Freunde gefunden, ich kenne die Umgebung und sie gefällt mir, ich liebe den See. Wahrscheinlich haben die Leute das Gefühl, dass ein Bündner in der Zentralschweiz nie richtig ankommen kann. Gut möglich, dass sie recht haben. Denn neulich beim Coronatest begrüsste mich der Testausführende mit: «Ah wie schön, ein Bündner». Später beim Einführen des Stäbchens fragte er: «Und, bist angekommen hier?» Ich mit Stäbchen in der Nase: «Äh…, ja.» Er sei aus Ilanz, erzählte er mir weiter, und auch nach 17 Jahren immer noch nicht angekommen in Luzern. Der Test fiel dann trotzdem positiv aus.
Franco Furger
Franco Furger ist in Pontresina aufgewachsen und hat am Lyceum Alpinum Zuoz die Matura absolviert. Danach tourte er als Profi-Snowboarder um die Welt und liess sich zum Journalisten ausbilden. Er arbeitete als Medienkoordinator bei Swiss Ski, Redaktor bei der Engadiner Post und World Cup Organisator bei der Corvatsch AG. Im Sommer 2017 bloggte Franco über seine Erlebnisse als «Chamanna Segantini-Hüttenbub». Die Liebe führte ihn dann in die Stadt Luzern, wo er die Sonne und die Bündner Berge vermisste. Nun lebt er als freischaffender Texter mit Frau und Sohn in Laax.
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