Foto: Amazon Italien
Im Frühsommer vor vier Jahren wurde meine Handtasche gestohlen, aus dem Auto, das zehn Minuten unbeobachtet dagestanden hatte. Ich war so dumm gewesen, die Handtasche sichtbar auf dem Beifahrersitz liegen zu lassen. Ein regional bekannter Krimineller konnte in kürzester Zeit mit Anlauf und Wucht die Scheibe einschlagen, womit auch immer. Obwohl nichts ausser einer Zehn-Euro-Note für ihn von Wert war, blieb das gesamte Diebesgut bis heute verschwunden. Die gestohlene Tasche war neu, kurz vor der Reise im Mode-Geschäft in Chiavenna gekauft, aus Kunststoff in Leoparden-Print, Gelb-Schwarz, Marke: Manila Grace, für etwas über 100 Euro. Mir gefällt selten eine Handtasche, diese fand ich grossartig. Beim Abschied sagte ich zu der Verkäuferin, ich werde die Tasche jetzt in der Toscana ausführen. Sie fand das richtig, wünschte mir eine gute Reise, nachdem wir uns, wie immer, einem Gespräch über Stoffe, Farben und Schnitte hingegeben hatten. In der Tasche befand sich eine langgezogene Sonnenbrille von Eyes and More, mit braunem Rahmen, schwarz-gesprenkelt, geschliffenes Glas, grünlich, aus Leipzig. Zwei Frauen hatten mich im Shop nahe der Thomas-Kirche betreut, sie stellten fest, ich könne jetzt den Alligatoren-Blick aufsetzen. Eine Sonnenbrille also, die viel Ruhe (und Respekt) versprach. Weg. Ebenso ein Medikament gegen das entzündete Augenlied aus der Farmacia, 8.50 Euro. Und Sonnencreme, Preis und Hersteller sind mir entfallen, sie war aus der Apotheke in Samedan, die Freunde von uns betreiben, also die beste Sonnencreme, die ich je hatte. Auch mein pinkfarbenes Portemonnaie war fort. Das Leder in floralem Muster geprägt, gefüttert mit violett-schwarzer Baumwolle, Liberty of London, etwas abgenutzt, umso begehrenswerter. Ich hatte es vor vielen Jahren im Globus an der Bahnhofstrasse, Zürich, gekauft, es verband mich mit Zürich und London. Im Portemonnaie waren Identitäts- und Bankkarte, Führerausweis, die heilige Coop-Karte für die Superpunkte. Alles konnte wiederbeschafft werden. Nicht so die kleine Zeichnung meines jüngsten Sohnes, er hatte als Sechsjähriger Robo-Cop gezeichnet, mit Kugelschreiber, auf einem Tischset in der Santa Lucia, Bellevue, Zürich, prächtig geraten war dieser Cop, ich liebte die Zeichnung sehr. Deshalb habe ich sie damals in der Pizzeria sorgfältig den Umrissen entlang aus dem Set gelöst, Riss um Riss. Trotzdem gab es einen Patzer auf Brusthöhe, das machte die Zeichnung für mich zu einem noch kostbareren Objekt.Stets zog ich es auf Zugreisen, zusammen mit den drei Passbildern der Kinder, vorsichtig hervor, die Betrachtung beschleunigte die Fahrt. Die schönsten und sprechendsten Fotos, die interessanteste Kugelschreiber-Skizze, wie mir nach deren Verlust schien. Seit meine Hand diese vier Papiere nicht mehr greifen konnte, waren sie noch präsenter – und alles, was damit verbunden blieb. Auch die Zugfahrt mit D. aus dem Jahr 2012. Wie ich ihm Skizze und Fotos gezeigt hatte, Höhe Ziegelbrücke, seinen freundlichen Kommentar – und sein Tod fünf Jahre später. Und dann waren da noch die Sätze für einen Blog-Beitrag in der Engadiner Post. Auf einem Zettel von der Rolle Notizpapier in unserer Küche. Der Dieb hat auch diese Sätze weggeworfen, ins Dickicht oder in einen Mülleimer. Es ging um Begräbnisse. Ich bin sicher, es wäre mein bester Text geworden.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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