Neulich war ich im Tessin. Schön war’s, aber ich fuhr auch gerne wieder nach Hause. Als ich bei der Heimreise an Roveredo vorbeikam, fiel mir am Strassenrand die Tafel mit den zwei Steinböcken auf: Willkommen in Graubünden. Ein gutes Gefühl stellte sich ein. Ein Gefühl von Heimat und wieder mit dem richtigen Nummernschild unterwegs zu sein. (Seit einem halben Jahr wohne ich nämlich wieder in Graubünden und nicht mehr in Luzern.) Graubünden ist bekanntlich ein grosser Kanton, sogar der grösste der Welt. Als Kind war ich besonders stolz darauf. Mein Graubünden, ein Kanton mit Ecken und Kanten, vielen Tälern und hohen Bergen. Damals in der 5. Klasse mussten wir die Talschaften des Kantons sogar auswendig lernen. Der Lehrer zeichnete jeweils ein Tal mit den wichtigsten Ortschaften, Bergen und dem Flussverlauf auf die Wandtafel. Wir mussten die Skizze in unser Heft übertragen und uns alles merken. In der nächsten Geografiestunde wurde dann jemand aufgerufen, um das Tal so wie der Lehrer vor eine Woche auf die Wandtafel zu kritzeln. Ich war beim Domleschg an der Reihe und vergass tatsächlich ein braunes Dreieck als Symbol für den Piz Beverin zu zeichnen. Note 5,5 statt 6. Für mich den Perfektionisten eine Blamage. Natürlich hatte ich alles perfekt gelernt, doch blöderweise hatte ich vergessen, den Piz Beverin in mein Heft zu übertragen. Ich wies den Lehrer darauf hin. Aber er blieb hart. Als Dank wurde ich für mein streberhaftes Verhalten auch noch gehänselt. Als Kind verbrachte ich jede Maiferien im Tessin und ich wusste immer haargenau, wo Graubünden anfing und aufhörte. Damals hing noch keine grosse Tafel am Strassenrand, sondern nur ein kleines Kantonswappen, das ausser mir wohl kaum jemand bemerkte. Kantonswappen hatten mir es nämlich angetan. Ich kannte sie alle und wusste auch welche Stäbe, Schlüssel und Bären zu welchen Halbkantonen gehörten: Schwarzer Stab = Basel-Stadt, doppelbärtiger Schlüssel = Nidwalden, Bär mit Buchstaben = Appenzell Ausserrhoden. Nur das Wappen des Kantons Waadt fand ich komisch, warum steht da Text drauf, fragte ich mich. Auch die kniffligen Hauptstädte kannte ich. Baselland? Natürlich Liestal. Obwalden? Das muss wohl Sarnen sein. Thurgau? Richtig, es ist Frauenfeld. Und vor allem wusste ich, welche Kantone die flächenmässig grössten waren: Auf dem ersten Platz Graubünden mit 7105 km2, dann Bern (5959 km2) gefolgt vom Wallis (5225 km2), Waadt (3212 km2) und Tessin (2812 km2). Der kleinste ist übrigens Basel-Stadt mit gerade mal 37 km2. Dass ich im grössten Kanton wohnte, erfüllte mich mit besonderem Stolz, denn ich liebte Superlative. Die Kantone mit dem höchsten Berg, der grössten Stadt oder dem grössten See waren auch noch Kantone, die sich sehen lassen konnten. Gegenüber allen anderen fühlte ich mich ziemlich überlegen. Ich denke, der Stolz ein Bündner zu sein, erwachte in mir wegen des kaum bemerkbaren Grenzübertritts zwischen Tessin und Graubünden. Denn von da dauerte die Autofahrt ins Engadin immer noch ewig lange – auch weil meine Eltern spätestens auf dem Albulapass eine längere Pause einlegen mussten, da mir wegen den vielen Kurven schlecht wurde. Anderswo in der Schweiz durchfährt man in dieser Zeit locker mal zehn Kantone. Fasziniert war ich auch vom San-Bernardino-Tunnel, lange Zeit der längste Strassentunnel der Schweiz. Als 1980, genau ein Tag vor meinem sechsten Geburtstag, der Gotthard-Strassentunnel eröffnet wurde, war das eine herber Schlag für meinen Kantönlistolz. Ein Tunnel vom Tessin in den Kleinkanton Uri und dann erst noch ein doppelt so langer. Darf nicht wahr sein. Graubünden nur noch die Nummer zwei. Zum ersten Mal durch den Gotthard fuhr ich erst einige Jahre später an eine Familienfeier. Tatsächlich, die Fahrt dauerte sehr lange und ich hatte viel Zeit, um die Kantonswappen auf den vorbeifahrenden Autos zu studieren. Dabei kam der Bündnerstolz wieder auf: All die verschiedenen Kantone, Zürich, Aargau, Solothurn, Luzern, Zug, Schwyz etc. müssen sich den Gotthardtunnel unter sich aufteilen, um ins Tessin zu gelangen. Der San Bernardino hingegen, das ist ein Tunnel quasi nur für uns Bündner, er liegt vollständig in Graubünden und führt uns exklusiv in die Sonnenstube der Schweiz. – Wobei, die wahre Sonnenstube der Schweiz mit mindestens 400 Sonnentagen im Jahr ist das Engadin, nicht wahr?
Franco Furger
Franco Furger ist in Pontresina aufgewachsen und hat am Lyceum Alpinum Zuoz die Matura absolviert. Danach tourte er als Profi-Snowboarder um die Welt und liess sich zum Journalisten ausbilden. Er arbeitete als Medienkoordinator bei Swiss Ski, Redaktor bei der Engadiner Post und World Cup Organisator bei der Corvatsch AG. Im Sommer 2017 bloggte Franco über seine Erlebnisse als «Chamanna Segantini-Hüttenbub». Die Liebe führte ihn dann in die Stadt Luzern, wo er die Sonne und die Bündner Berge vermisste. Nun lebt er als freischaffender Texter mit Frau und Sohn in Laax.
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