Verschwommene Orientierung ist ganz alltäglich am Zürcher Hauptbahnhof. Bilder: Carla Sabato
„Du kannst dann das 15i nehmen bis zum Klusplatz.“
„Das 15i?“
„Ja, du wohnst doch beim Bucheggplatz.“
„Ich glaube nicht, ich nehme ja immer den 46er bis zum Bahnhof“
„Wie? von dem hab ich ja noch nie was gehört. Würd mich aber Wunder nehmen, ob das 50i nicht auch geht.“
„Du meinst das 15i?“
„Ach ja, genau. Weisst du was, dann nimm doch einfach das 3üü bis zum Klusplatz - dann sehen wir weiter.“
Dieses Gespräch ist übrigens kein Schwatz unter Fachleuten. Nein, das war ein Telefonat zwischen meiner Grossmutter und mir. Die Zahlen beziehen sich auf die jeweiligen Bus- oder Tramlinien, mit denen ich zu ihr zu Besuch kommen sollte. Und wie man unschwer feststellen kann: Irgendwie hatten wir beide keinen rechten Durchblick. Der einzige Unterschied zwischen uns war, dass ich gerade seit einigen Tagen in Zürich wohne, sie dagegen seit über 50 Jahren.
Hach, Zürich. Der Schweizer Ort, mit den unbegrenzten Möglichkeiten. Der Schweizer Ort, in dem man endlich einmal anonym unterwegs sein kann. Der Ort, an dem einen obskure Schilder den Weg zu fantastischen Schnäppchen weisen.
Der Ort, an dem mir der Drucker auf seinem Display mitteilt, dass er zu wenig blaue Tinte habe, um schwarz-weiss ausdrucken zu können. Der Ort, an dem man (laut eingefleischten Bewohnern dieser Stadt) seine Sporthosen nicht draussen aufhängen, und sein Velo immer gut sichern sollte – beides verschwindet. Wohin bleibt offen.
Ja, und Zürich ist leider auch der Ort, an dem ich mich ständig verirre. Sowohl in der Stadt, als auch im WirrWarr des öffentlichen Verkehrs (siehe obiges Gespräch). Und auch in Zeiten von Google Maps verschwinden Zielpunkte einfach auf der Karte, sodass man hoffnungslos im Grossstadt Dschungel verwahrlost. Mit leerem Akku, wohlgemerkt.
Als ich also wieder einmal meinen Heimweg durch die zig Unterführungen unter dem Hauptbahnhof suchte, erinnerte ich mich schmerzhaft an das übersichtliche Leben im Engadin. Simple Dorfstrassen mit eingängigen Namen, übersichtliche Buslinien und pro Bahnhof höchstens zwei Gleise. Dazu noch die herrlichen Berge, die hübschen Engadinerhäuser, magische Sonnenaufgänge…
Aber zurück in die Unterführung. Google Maps funktioniert hier natürlich nicht. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass es dort unten nicht mit rechten Dingen zugehen kann. So wie bei den Treppen in den Harry Potter Romanen, die nach Belieben einfach den Endpunkt wechseln. Egal welchen Aufgang ich auswähle, ich lande nämlich nie dort, wo ich eigentlich hinmöchte.
Schwups!
Eine Etage höher; immer noch in der Unterführung.
Schwups!
Auf der Bahnhofstrasse.
Schwups!
In der Halle des Hauptbahnhofes.
Ich gab also auf, nahm den erstbesten Ausgang, und entschied mich, über Tramgeleise, rote Fussgängerlampen und unter Absperrseilen zu meiner Bushaltestelle zu rennen. Rein in den Bus, und ab nach Hause. Für heute nochmal Glück gehabt würde ich meinen. Und während ich die Haustür aufschloss, ging mir ein tröstlicher Gedanke durch den Kopf: Falls ich beim Verirren doch einmal verschwinden sollte, hätte ich wenigstens genügend Sporthosen und Velos zur Verfügung.
Carla Sabato
Carla Sabato ist Studentin, ehemalige Praktikantin bei der Engadiner Post, Hobbyfotografin (liebend gerne in der Dunkelkammer), stolze Vegetarierin, Yoga-Praktizierende, Verfechterin gemässigter Klimazonen, Frühaufsteherin, Hundehalterin, Pragmatikerin, schwarze Rollkragenpullover Trägerin, Teilzeit Existentialistin, Raus-aber-richtig-Frau, schlechte Autolenkerin und Möchtegern-Vancouverite.
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