Eine Tuschzeichnung von Jean Willi: Neben der Schriftstellerei widmet sich Willi der Malerei und dem Zeichnen.
Der neue Roman von Jean Willi «Closing Party» beginnt in gewohnt elegantem Stil mit einer Rückblende auf ein emblematisches Angstmoment des jungen Protagonisten, Alex, den wir bereits aus Willis gefeiertem Roman «Sweet Home» (1999) kennen. Nun steht Alex wieder vor uns. Gleich zu Beginn. Auf dem Fünfmeterbrett im Gartenbad Eglisee, Kleinbasel. Er überlegt, ob er den Sprung wagen soll. Zu früh. Alex steigt frustriert aufs Dreimeterbrett und springt von dort aus ins Wasser.
Viele Jahre vergehen, bis Alex, der Erzähler und «Doppelgänger» von Jean Willi, sich nochmals stellt - und springt. Von Zeile zu Zeile, von Seite zu Seite. Er schreibt immer weiter und begleitet uns zuletzt – in Verkehrung der Ziffer in Covid-19 – 91 Kapitel lang durch die vordergründig ereignisarmen Tage während der Krisenzeit auf Ibiza, wo er im Pla de Corona das einfache Leben eines «ewigen Aussteigers», «Freaks» und «Hippies mit Kreditkarte» führt. Die geliebte Frau, Celia, ist gestorben. Und auch sein Hund, Tigra, ist tot. Alex kommt es manchmal vor, als würde Gott, mit einer Fliegenklatsche bewehrt, ziellos Kreaturen plattmachen. Oder ist dieser Gott einfach apathisch? Er weiss es nicht.
Alex geht zum Grab seines Hundes und spaziert mit anderen Hunden. Den Hunden ist der Roman eines Erzählers, der als einsamer Wolf gelten kann, gewidmet - nicht dem einen Hund, dem Black Dog, Chiffre für die Depression. Alex lässt mehr Licht ein, der melancholische Ton hält sich die Waage mit einer heiteren Grundstimmung, in der Humor aufblitzt. So sagt er beispielsweise, er gehe zum Postfach, um zu schauen, wer ihm nicht geschrieben habe. Mit seinem Einsiedlerdasein, das ihm manchmal wie Königtum vorkam, hatte sich der Erzähler arrangiert - bis «die Seuche» kam mit ihrer Bedrohung und Konsequenz, von Isolation bis Ausgangssperre, Abstand, Kontrolle, Maske und Reisevorschrift. Da wird das Alleinsein zur Einsamkeit und beginnt zu schmerzen.
Der Gang zum Postfach, ins Dorf, ins Restaurant, in die Bar, zur Abfallentsorgung, jeder Einkauf, all die banalen Handgriffe und alltäglichen Abläufe, der Besuch beim Coiffeur, Zahnarzt, Garagisten, bei Freunden und Freundinnen, aus denen der skurrile Holländer heraussticht, die Gespräche über Kunst und Literatur, die Würdigung von Künstlerinnen und Künstlern, kleine Streitereien, das Warten auf Felix und besonders das vieldeutige Warten auf Lulu, die nie kommt, erhalten angesichts der äusseren Bedingungen und Alex’ Alter, das ihn von heute auf morgen den «Vulnerablen» zuweist, eine tiefere Bedeutung.
Das Alltägliche gibt nicht nur Halt, in diesem noch nie dagewesenen Rahmen und mit der Insel als Labor huldigt es gleichzeitig dem Leben und der Endlichkeit - stets durchzogen von Reflektion, Erinnern, Rechenschaftsbericht, gar Abrechnung mit sich selbst. Als Tagebuch? Alex schreibt, es sei kein Tagebuch, solange er nicht beschreibe, wie er einen Orangensaft auspresse. Was er ein paar Seiten später prompt tut, um im Buch dann mehrheitlich Zitronenwasser zu trinken. Wir dürfen diesem ausserordentlich klugen Erzähler also nicht alles glauben. Denn er sagt ja auch, einen Text zu verfassen, der davon handle, wie nichts passiere. Dabei geht es in diesem brillanten Roman natürlich um alles, das existenziell relevant ist.
Während «nichts passiert» glänzt über Bericht, Einsicht und den Sprungtürmen dieser Welt immerwährend der Himmel, ihm wendet sich Alex mit besonderer Sorgfalt zu und beschreibt ihn, seine Sonne, seinen Mond und seine Wolken, so hinreissend wie Landschaft, Tiere und besonders Pflanzen, er führt uns zu violetten Pyramidenorchis, weissen Narbonne-Milchsternen, wilden Gladiolen, Rosen, Akeleien aus Monets Garten in Giverny, zu Lorbeer-, Avocado-, Oliven-, Mandel-, Granatapfel- und Zitronenbaum, zu Bauhinia, Grevillea, Jacaranda, Jasmin, jungen Aprikosen, Feijoia, Seerose, Pinien, glänzenden Palmenblättern, Lavendel, Wachholder, Rosmarin, Frangipani und zum wilden Thymian, der duftet «wie der leibhaftige Sommer».
Der Blick geht wiederkehrend und refrainartig nach innen, mitten in Angst und Sehnsucht, ins Unbewusste, in Träume, auch Schwebeträume aus der Kindheit, Halluzination und Halbschlaf, «nur hier und dort eine scharf gezeichnete Lichtkante», heisst es. Zusammen mit grandiosen Gedichten strukturieren diese Passagen den Roman.
Closing Party? Macht die Seuche Alex fertig? Körperlich nicht. Resilient scheint er auch. Deutet der Erzähler mit dem Titel etwa an, es gehe um eine Finissage, die die nächste Ausstellung des Schriftstellers, der auch Maler, Grafiker und Zeichner ist, ankündigt? Vielleicht. Schlimmer? Vielleicht. Viel schlimmer? Ein Satz im Buch sagt, ja, der Rest sagt, nein, der Rest sind viele andere Sätze und das Buch selbst, das von Überwindung zeugt und damit Gegenzauber ist und Tat: die Bewegung vom Dreimeterbrett zum Fünfmeterbrett, Sprosse für Sprosse.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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