Foto: Franco Furger
Neulich in der Rhätischen Bahn auf dem Weg ins Engadin. Ich schau aus dem Fenster und seh den Rhein, ganz ruhig und grau wie Blei, fast so, als würde er nicht fliessen. Nach Reichenau fährt der Zug über eine Brücke und zeigt für einen Augenblick die Vereinigung des Vorder- und Hinterrheins. Hier beginnt also der berühmte Fluss, Namensgeber vieler Landschaften und Ortschaften, Grenzenzieher und Sprachentrenner umkämpfter Landstriche. Eine Sehenswürdigkeit, die ausser mir wohl kaum jemand bemerkt. Im Domleschg gönn ich mir einen Kaffee, den mir der freundliche Minibar-Barista per Knopfdruck brüht. Nun bin ich bereit für das erste Abenteuer, die Fahrt durch die Schinschlucht. Der Zug windet sich entlang bewaldeter Steilflanken und öffnet zwischendurch den Blick in die Tiefe, wo sich die Albula jeden Tag noch etwas tiefer ins Gestein frisst. Unglaublich diese Naturgewalt. Unbeschreiblich. Ich kann nur staunen. Mir fällt auf, dass ich die Landschaft viel intensiver wahrnehme und genauer betrachte als früher. Nun sehe ich das Grosse und Kleine zugleich und erkenne wie alles perfekt ineinandergreift: Berge und Steine, Wälder und Blätter, Bäche und Tau. Details, die ich früher kaum beachtet habe, finde ich plötzlich unglaublich faszinierend. Wie sich zum Beispiel die Farbe eines Bachs verändert, während er Steine umkurvt. Oder welch unterschiedliche Struktur Baumrinden haben. Vieles in der Natur mag beliebig wirken, doch ich bin überzeugt: Alles hat seinen Grund. Als Kind und auch als Jugendlicher war die Landschaft einfach nur da. Ich machte mir keine grossen Gedanken über sie. Im Vordergrund stand die Aktivität, die ich in ihr ausüben konnte: Waldhütten bauen, Bäche stauen, ein grosses Feuer machen, in Bergseen baden und nach Felsvorsprüngen Ausschau halten, um hineinzuspringen. Dann entdeckte ich den Wintersport. Skifahren und Snowboarden, auf der Piste und immer häufiger im freien Gelände. Ich realisierte, dass der Aufenthalt in der Natur nicht nur schön, sondern auch richtig gefährlich sein kann. Ich stieg auf hohe Berge, die Risiken wurden grösser und der Blick aufs grosse Ganze geschärft. Ich sah die Landschaft aus spektakulärsten Perspektiven, trotzdem blieb sie Nebensache. Es ging mir in erster Linie um das Abenteuer, die körperliche Herausforderung, um Prestige, um mich. Inzwischen kann ich auf einer Bank sitzen oder aus dem Zug schauen und bin überwältigt von der Landschaft, empfinde dabei grösseres Glück, tiefere Dankbarkeit und mehr Demut als damals auf dem Piz Bernina. Wie befreiend. Immer häufiger gelingt es mir sogar, mich nicht ablenken zu lassen, nicht aufs Handy zu blicken, kein Buch zu lesen, sondern nur zu schauen. Und zu staunen über Gottes Schöpfung. Oder ist alles per Zufall aus dem Nichts entstanden? Eine seltsame Vorstellung, denn der Zufall würde der Landschaft und letztlich dem Leben jeden Sinn entziehen. P.S. Ich bin gut im Engadin angekommen, wo ich nach einer nebligen Fahrt durchs Albulatal standesgemäss von der Sonne empfangen wurde.
Franco Furger
Franco Furger ist in Pontresina aufgewachsen und hat am Lyceum Alpinum Zuoz die Matura absolviert. Danach tourte er als Profi-Snowboarder um die Welt und liess sich zum Journalisten ausbilden. Er arbeitete als Medienkoordinator bei Swiss Ski, Redaktor bei der Engadiner Post und World Cup Organisator bei der Corvatsch AG. Im Sommer 2017 bloggte Franco über seine Erlebnisse als «Chamanna Segantini-Hüttenbub». Die Liebe führte ihn dann in die Stadt Luzern, wo er die Sonne und die Bündner Berge vermisste. Nun lebt er als freischaffender Texter mit Frau und Sohn in Laax.
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