Spieglein Spieglein an der Wand. Ich hatte mich als Kleinkind darin erblickt. Bevor mir meine Mutter Schneewittchen vorlas. Später verstand ich, Spiegelbild ist nicht gleich Spiegelbild. Es macht einen Unterschied, welches Licht ich wähle, ob ich frontal reinschaue oder seitlich, den Spiegel tief oder hoch halte. Alle Erkenntnisse lassen sich metaphorisch verstehen oder praktisch. Prima Skills im Zeitalter der Spiegelkultur. Gute Selfies sind besser als schlechte.
Spieglein Spieglein, du bist ein Ding! Wenn ich den Spiegel halte, existiert er in meiner Hand. Er ist ein starres Objekt. Ich bin ein lebendiger Körper, der über dieses verfügt. Oder? Nicht nur. Sobald ich hineinblicke, saugt es mich an einen irrealen Ort. Ich sehe mich in ihm. Und bin gleichzeitig draussen. Ort, Nichtort und reflektierter Ort vor Ort.
Mit zwei Spiegeln kann ich es auf die Spitze treiben. Einen Tunnel kreieren. Mich vervielfältigen. In Vergangenheit und Zukunft reisen. Im Spiegel kann ich mich verlieren. Oder finden. Er macht mich sichtbar vor mir selbst, erlaubt mir manchmal sogar eine neue Sicht auf das vermeintlich bekannte Ich. Verschafft Distanz. Oder Nähe. Die brauche ich, um zu sehen, ob das linke Auge noch entzündet ist.
Kürzlich schaute ich in einen Spiegel, mit dem ein Kreuzgang dekoriert war. Ich stellte mir mittelalterliche Nonnen vor. Wie sie auf und ab gehen. Meine Fantasie nahm Fahrt auf. Welche Geschichte könnte hier spielen? Der Spiegel kam mir als magischer Ort vor. Genauso die Literatur, die abbildet, fiktiv ist, Figuren und Abläufe erfindet. Und gleichzeitig in die Realität greift und sie mitgestaltet.
Wie wäre es wohl, wenn ich mir plötzlich aus einem Aktenberg entgegengeschleudert würde? Wenn mein vermeintlicher Charakter mir vorgehalten würde, als wären die Akten über mich ein Spiegel, der nicht lügt? Wenn in diesen Akten ein Text von mir läge? Als Beweis, dass der Spiegel nicht lügt. Ich kann es mir nicht vorstellen.
Ursula (Uschi) Waser, 1952 geboren, muss es sich nicht vorstellen, sie weiss es, hat es am eigenen Leib erfahren. Sie war eines der «Kinder der Landstrasse», die das «Hilfswerk» von Pro Juventute ihrer jenischen Mutter gestohlen hat, um Sesshaftigkeit zu erzwingen und sie zuzurichten. Sie war sechs Monate alt, als sie ins Kinderheim kam. Damit begann die Quälerei durch insgesamt zwanzig Heime sowie vier Kurzaufenthalte bei Pflegefamilien. Nach sechsundzwanzig Umplatzierungen in acht Kantonen haben die Behörden Ursula Waser 1971 erste Schritte in die Freiheit erlaubt.
Dies alles wurde dokumentiert. 3500 Seiten umfasst der Aktenberg. 25 Kilogramm Schriftlichkeit türmen sich vor Ursula Waser auf wie eine Medusa. Aber Ursula Waser hat längst einen Spiegel in der Hand. Sie hat ihre Stimme gefunden. Eine kräftige und präzise Stimme für das jenische Volk.
Zu hören ist Ursula Waser am 5. Februar 2024, 18h, in der Kantonsbibliothek, Chur. Sie wird Texte lesen und mit mir über Sprache, Literatur und Erzählung reden. Ein zweites Mal werden wir, von der Lyrikerin Martina Caluori moderiert, in der Kulturgarage «Okro» sein, Chur, 16. September 2024, 19h. Thema: Literatur und Trauma.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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