Foto: Romana Ganzoni
Der Piper-Verlag führt mit hundert «Gebrauchsanweisungen» keine nüchternen Reiseführer, es sind kurzweilige Kompendien über Land, Leute und Lebensart, von einem Autor subjektiv formulierte Appelle aufzubrechen, eigene Abenteuer zu erleben. Für viele Länder, Städte und Regionen Europas, aber auch für andere Kontinente liegen solche Reiseführer vor. Über die Schweiz schrieben bisher Thomas Küng (Schweiz), Milena Moser (Zürich) und Bene Benedikt (Alpen). Mit der «Gebrauchsanweisung für das Engadin» (Piper 2016) ist der Schriftstellerin Angelika Overath aus Sent neu eine zärtliche und kräftige Liebeserklärung an ihre Heimat gelungen. Die über 40 Kapitel speisen sich aus Alltagserfahrungen, Lektüren, Recherchen, zufälligen und gezielten Gesprächen. Ihre Perspektive gehe vom Dorf Sent aus, sagt Overath, und damit von der Sprache dieser Gemeinde, dem Vallader. Die Leserin lernt Menschen, Moden und traditionelle Rezepte kennen, Blumennamen, Historisches, Praktisches, Anekdoten, Kunst. Sie reist lesend kreuz und quer durch das Engadin und die Südtäler, saugt Landschaften und Geschichten ein wie Düfte.
Unter dem Titel «Glüm» schreibt die Autorin: «Glanz. Wir leben nun seit neun Jahren im Unterengadin, und das besondere Licht berührt mich immer noch. Obwohl ich es kenne und von ihm weiss, erschrecke ich vor dem Leuchten einer Wiese nach dem Regen, dem Abendschatten auf einen Brunnen.» Unter dem Titel «La Naiv»: «Die Substanz. Sie kommt geflogen. Vielgestaltig. Als gesprühter Hauch, als ein Torkeln, Trudeln. Als eine flimmernde Leinwand. Als ein Atem. Sturm. Dann ist sie da. Für eine Weile. Oder für immer. Meint man.» Das nur zwei der vielen atmosphärisch aufgeladenen Passagen, die dem kundigen und klugen Auffächern von Wissen Glanz verleihen. Overath ist in erzählerischer Hochform, ein Andreas Caminada der Literatur, sie erzählt wie er kocht: leidenschaftlich, verspielt, überraschend, leicht, mit «geste essentiel». Wir lesen: «Um das Engadin zu begreifen, kann es nicht schaden, diese Talschaft vom Süden her zu denken. Viele Gepflogenheiten sind ein wenig italienisch. Und doch wieder anders.» Ja, denken wir ein wenig italienisch. Vor uns liegt eine riesige Lasagne in Buchform. 40 Schichten. Minimum. Und mit jedem Bissen wird der Hunger grösser. Bange Blicke. Nur noch einen Zentimeter bis auf den Grund. Lage um Lage essen wir durcheinander schaumiges Dessert, deftige Hauptspeise, elegante Hauptspeise, Flussfisch ohne Beilage, Nusstorten, Marzipan-Dekorationen, Salat mit Wiesenblumen, bunt, und wir spülen klassische italienische Küche, Engadiner Wärme, deutsche Tugend mit trockenem Riesling, Sforzato und Iva. Auf das «cordial grazcha fichun a tuots» der Autorin (Seite 254), will die Leserin sagen: «Grazcha fichun ad Ella, duonna Angelika».Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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