An gewissen Orten ist in den Cinque Terre kein Durchkommen mehr... Foto: Mari-Claire Jur
Ein Jahr ohne Meer ist ein verlorenes Jahr für mich. Deshalb plane ich zumindest einmal jährlich einen Ausflug an ein salzhaltiges Gewässer. Und von Sils aus ist nicht etwa die französische Atlantikküste am schnellsten zu erreichen, sondern der Golf von Genua. Da aber das Baden im Hafen der ligurischen Grossstadt nicht ratsam ist, zieht es mich ostwärts nach Levanto, einem Hotspot fürs Wellenreiten. Das kleine Städtchen liegt zehn Zugminuten entfernt von den Cinque Terre, den malerischen Dörfern an der Steilküste der Riviera di Levante. Monterosso, Vernazza, Corniglia, Manarola, Riomaggiore (und auch Portofino) habe ich erstmals vor vierzig Jahren als Studentin erkundet. Wir wanderten damals auf halber Höhe durch Olivenhaine und Rebberge von Dorf zu Dorf, nahmen zwischendurch ein erfrischendes Bad in kleinen Buchten, tauchten von Klippen in eines der saubersten Meere von ganz Italien ein. Das alles kann man auch heute noch tun. Doch ohne Geduld und Geld geht nichts mehr. Spätestens seit diese Region zum Nationalpark und zum Unesco-Welterbe geadelt wurde, hat der Massentourismus Einzug gehalten. Wer heute auf der Via dell’amore wandeln und die spektakuläre Aussicht geniessen will, muss für eine Familie fünfzig Euro hinblättern. Das Schlendern durch die Gassen der Fischerdörfchen ist ohne direkten Körperkontakt zu anderen Touristen nicht mehr möglich – auch ausserhalb der touristischen Hochsaison vor und nach Ferragosto. Nahverkehrszüge und Kursschiffe sind hoffnungslos überfüllt. Wie stellte doch der Autor Hans Magnus Enzensberger schon Ende der 1950er-Jahre fest? «Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet». Die Cinque Terre sind ein trauriges Lehrbeispiel für den Overtourism. Ich werde sie künftig meiden und zwischendurch zum Roman «Schöne Ruinen» des Pulitzerpreisautors Jess Walter greifen. Er soll mitschuldig sein am weltweiten «Erfolg» der Cinque Terre.
m.c.jur@engadinerpost.ch
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PS werden von den Redaktorinnen und Redaktoren der Engadiner Post / Posta Ladina geschrieben und erscheinen wöchentlich in der Samstagsausgabe der EP/PL.
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