15.07.2024 Bettina Gugger 6 min
Teilnehmende des Mäh- und Denglerkurses bei der Einweihung des renovierten Carillons im letzten Juli. Foto: Bettina Gugger

Teilnehmende des Mäh- und Denglerkurses bei der Einweihung des renovierten Carillons im letzten Juli. Foto: Bettina Gugger

Die Parkbänke dürften bei diesen Starkregenschauern wohl mittlerweile alle morsch sein. Wie sehr rühren mich wieder in Stand gesetzte oder neu angefertigte Sitzbänke, ein Dienst an der Öffentlichkeit, der viel zu wenig honoriert wird. Es gibt Gönner, welche sich sogar ausführlich über die Holzauswahl Gedanken machen, damit sich die Ausruhenden ja keine Splitter, auf Schweizerdeutsch «Spreissen», auf Vallader «spina da laina», «sgrembla» oder «sclavezza» zuziehen. Splitterfasernackt heisst übrigens «nüda raclüda». Ein Wort, das Sie sich für den nächsten Hitzetag merken können, sofern Sie noch kein Vallader sprechen.

Zurück zur Sitzbank. Die Connaisseuse weiss, dass glatte Sitzbänke keine Selbstverständlichkeit sind. An dieser Stelle sei Herr Doktor Peter. R. Berry herzlich gegrüsst. Im Hof Zuort bei Sent, der sich im Besitz von Herrn Doktor Berry befindet, lädt eine herrliche Sitzbank – nach altem Original angefertigt - oberhalb einer verwunschenen Kapelle mit renoviertem Carillons zum Verweilen ein. Das Anwesen gehörte einst dem Dirigenten Willem Mengelberg, der die Kapelle 1920 erbauen liess - aus Dankbarkeit, dass die Schweiz und Holland vom Weltkrieg verschont worden waren (Über die Renovation des Carillon: EP 18. Juli 2023.) Das Gästehaus wird neu von den Pächtern Sarah Scarperi & Reinhard Psenner geführt. Wie die Dumplings schmecken und was die Sitzbank mit Giacomo Leopardi zu tun hat, dürfen Sie selbst herausfinden. 

Sie ahnen es, ich komme so langsam ins Schwärmen, Tränen der Sehnsucht schiessen mir in die Augen, Sehnsucht nach dem einfachen Leben, ohne die täglichen banalen Verführungen und die Reizüberflutung durch Verkehrslärm, Beschallung durch billige Popmusik und Gedränge im Supermarkt. Langsam nähere ich mich dem eigentlichen Thema dieses Blogs, wobei mir beim Schreiben immer klarer wird, dass das Eigentliche meist nicht das Eigentliche ist, dass sich das Wesentliche wie ein schlauer Fuchs in den Text schleicht und hier und da ein Huhn stiehlt, um nicht konstatieren zu müssen, dass die Veganerinnen und Veganer auch unter den neuen Pächtern im Hof Zuort das Nachsehen haben. (Ja, ich habe auch schon mal eine Omelette im Hof Zuort gegessen – aus Eiern der vierzig? freilaufenden Hühnern.) Das Wesentliche unterspült den Text wie eine Naturgewalt, ohne zuvor um Erlaubnis zu bitten. 

Wer Tagebuch schreibt, stellt rückblickend oft fest, dass nicht unsere Ziele und Wünsche uns prägen, sondern vor allem die Menschen, denen wir auf unserem Weg begegnen, die Hindernisse, die wir überwinden, die Umwege, die wir gehen, all die namenlosen Tage, an denen wir vermeintlich feststecken, immer gleiche Wochen, in die sich allmählich Rituale einschleichen, der Einkauf auf dem Wochenmarkt, das Streicheln der Nachbarskatze, bis wir plötzlich feststellen, dass der Mais halbhoch steht und die Minze in die Höhe schiesst und wir innehalten, während wir dem Gesang der Nachbarin lauschen, die ein Volkslied aus dem Balkan vor sich her singt.

Dieses innere Erleben steht im Kontrast zu einer Aussenwelt, die kurz vor dem Überhitzen scheint – als ob die Angst vor der Klimaapokalypse die Psyche des Einzelnen zum Kollabieren brächte. Zur Besänftigung gibt’s dann Taylor Swift auf die Ohren und Augen gedrückt, schöne, glitzernde Welt.

Es scheint eine Korrelation zu geben zwischen der Unzufriedenheit einer Gesellschaft und deren Streben nach Perfektion. Mir ist nicht ganz klar, ob das Streben nach Perfektion die Unzufriedenheit auf den Plan ruft oder die Unzufriedenheit dem Streben nach Perfektion vorausgeht. Das Silicon Valley hat sich jedenfalls die verführbare Psyche des Menschen zu nutzen gemacht, hier ein Like, da ein Like, hier ein Herzchen, wer kann denn so viel Aufmerksamkeit verschmähen?

Aber natürlich muss man sich die Likes erarbeiten; man sollte sich schon ein bisschen anstrengen, gut aussehen, durchtrainiert, für immer jugendlich, eine minimalistisch gestylte Wohnung präsentieren mit Kochinsel und Hochleistungsmixer und ein paar Dekobildern von Ikea. Man sollte nur frisch gepresste grüne Säfte trinken, aus Weizengras und Giersch, nichts essen (wofür dann die Kochinsel? Keine Ahnung. Vielleicht lernt man ja doch mal Andreas Caminada kennen. Der dürfte dann auch mal die Küche versauen, wobei Spitzenköche so sauber wie Chirurgen arbeiten), Yoga machen. Natürlich belohnen uns die Tech-Giganten nicht ohne Gegenleistung. Daten müssen her, Daten über medial abgekupferte Vorlieben, Daten aus Chats, «Ich liebe dich – auf nimmer Wiedersehen!», der Schweiss der Mittelklasse, denn auch heutzutage arbeiten Erntehelferinnen und Erntehelfer auch in der Schweiz unter sehr bescheidenen Bedingungen für einen sehr bescheidenen Lohn, um sich ihr bescheidenes Leben in Osteuropa zu finanzieren. Es ist also nicht so, dass sich niemand mehr im Schweisse seines Angesichts sein Brot verdienen müsste. (Lorena Simmel hat ein eindrückliches Buch über die Erntehelfenden im Seeland geschrieben: «Ferymont», Verbrecher Verlag, 2024.)

Auch die Balletttänzerinnen und Tänzer verdienen sich ihr Brot unter totaler körperlicher Verausgabung, um elegant zur Kultur überzuleiten. Sie trainieren täglich acht Stunden. Opernsängerinnen und Sänger bereiten sich ein Jahr lang auf eine Rolle vor – auch Singen ein Hochleistungssport. Schauspielerinnen und Schauspieler spielen manchmal parallel zwei unterschiedliche Rollen, auch sie arbeiten bis zur Erschöpfung, für eine Inszenierung, die vielleicht zwanzig Mal gespielt wird. Kostüme, Bühnenbild, alles immer perfekt. Die ganzen MeToo-Skandale haben die Hierarchien und Machtmissbräuche hinter den Bühnen der Theaterhäuser im In- und Ausland thematisiert, am Perfektionsstreben hat sich nichts geändert. In jeder grösseren deutschsprachigen Stadt geniesst man Inszenierungen auf höchstem Niveau.

Nur die Kritikerinnen und Kritiker bemängeln jeweils dieses und jenes, um sich ein bisschen wichtig zu machen, um den Anschein zu erwecken, auch etwas zu sagen zu haben. Vielleicht ist es auch nur der Überdruss bei all der Perfektion. Die Sehnsucht nach saloppen Schenkelklopfern, Gassenhauern, nach echten Gefühlen, nach Authentizität.

Langsam verstehe ich diese Kolleginnen und Kollegen. Diese Art der Perfektion kann provozieren, zum Widerspruch auffordern, denn niemand hat nach dieser Perfektion verlangt. Dabei müssten wir die Leistung der Regisseure und ihrer Compagnien bewundern, genauso wie das kleine Mathegenie, das bereits mit sieben Jahren die Integralrechnung beherrscht. Was löst bloss dieses Unbehagen aus?

Ich bevorzuge mittlerweile das Amateurtheater und die 12-Ton-Musik. Mittlerweile verstehe ich auch den Satz, der sich oft auf Buchrückdeckeln findet: «Ein kluges Buch.» Das heisst nichts anderes als: «Gehen Sie mir bloss weg mit diesem Buch!» Wenn Sie kluge Bücher lesen wollen, beginnen Sie doch mal mit «Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können» von Immanuel Kant. Der Wunsch nach kluger Lektüre wird Ihnen schnell vergehen. 

Wenn Sie sich vielleicht auch ein bisschen zu viel Kultur einverleibt haben, an einem «Kulturstich» analog zum «Sonnenstich» leiden, empfehle ich Ihnen die Musik von Brutalismus 3000, Hardcore Techno aus Berlin – oder eine Wanderung nach Zuort. 

 

Bettina Gugger

Bettina Gugger verbrachte die letzten Jahre im Engadin, zuletzt war sie Redaktorin bei der «Engadiner Post/Posta Ladina». Nun hat es sie wieder einmal ins Unterland verschlagen, wo sie für den «Anzeiger Region Bern» über das kulturelle Leben Berns berichtet. 2018 erschien ihr Erzählband «Ministerium der Liebe». 2020 folgte «Magnetfeld der Tauben». Im Rahmen eines Stipendienaufenthaltes in Klosters entstand der Kalender «Kunst BERGen», der 24 literarische Texte über Kunst versammelt. Auf bettinagugger.ch veröffentlich sie regelmässig kurze lyrische Prosatexte und einen Podcast für praktische Lebensfragen.