30.01.2017 Dominik Brülisauer 10 min
Bild: Dominik Brülisauer

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Wenn man während einem Event im Engadin unterwegs ist, begegnet man früher oder später einem Voluntari. Das ist so sicher, wie man am Metallica-Konzert auf einen Schwerhörigen trifft oder in der untersten Schublade auf Mario Barth. Wenn man Kulturpessimisten glauben darf, sollten Voluntaris von Pro Specie Rara unter Artenschutz gestellt werden. Sie glauben, dass Menschen, die auf freiwilliger Basis für ein sprichwörtliches Butterbrot etwas für die Gesellschaft leisten, ungefähr so akut vom Aussterben bedroht sind wie die Wahrheit im postfaktischen Zeitalter. Ich sehe das nicht so düster. Wenn man sich nämlich im Engadin umschaut, kann man durchaus wieder Optimismus tanken. Die Dichte an Voluntaris ist hier so hoch wie die Dichte an gemachten Brüsten im Spielerfrauen-Sektor von Fussballstadien. Grossanlässe könnten im Engadin nicht durchgeführt werden, wenn sich die Organisatoren nicht auf die tatkräftige Unterstützung hunderter Gratisarbeiter verlassen könnten. Dabei ist die Gratisarbeit historisch gesehen nichts Spezielles. Manches Bauwerk von der Antike bis zum Stalinismus hätte ohne den Einsatz unzähliger Sklaven oder Häftlinge unmöglich realisiert werden können. Und auch heute bekleiden wir uns hauptsächlich mit Klamotten, die durch Gratisarbeit in Bangladesch oder ähnlichen Orten hergestellt wurden. Doch während Sklaven oder Arbeiter in der dritten Welt durch die Peitsche oder die ökonomische Situation gezwungen werden umsonst für uns zu arbeiten, macht der Engadiner Voluntari das aus freien Stücken. Während den Weltcup-Rennen oder den Skiweltmeisterschaften in St. Moritz stehen die Voluntaris tagelang bei Temperaturen, die kühler sind als das Klima zwischen Angelina Jolie und Brad Pitt, im Einsatz. Sie rutschen die Pisten flach, verpflegen die Sportler, kümmern sich um die Logistik, kratzen die gestürzten Rennfahrer von der Piste oder schüttelten diese am Abend aus den Fangnetzen. Diesem Aufwand steht auf der Ertragsseite folgendes gegenüber: ein gutes Gefühl, ein modischer Skianzug und ein paar neue Bekanntschaften. Also nichts, was man sich nicht auch mit MDMA, Kreditkarte oder Tinder anschaffen könnte. Man kann also sagen, dass Voluntaris das krasse Gegenteil eines Investment-Bankers darstellen – sie leisten viel für wenig. Der Engadiner Voluntari ist der vollkommene Mensch. Friedrich Nietzsche ist ihm bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnet. Als der Philosoph in Sils beim Spazieren über die Welt, über den Tod Gottes und über die hervorragenden Pizzas auf der Mittelstation der Corvatsch-Bahn nachdachte, haben bestimmt ein paar Einheimische vor seinen Füssen für gratis null Franko einen Wanderweg für ihn freigeschaufelt. Das Konzept vom Übermenschen muss Nietzsche ganz einfach im Engadin entwickelt haben. Auch John F. Kennedy kam als Gast in das Engadin. Er war ebenfalls davon begeistert, dass die Leute hier nicht fragen, was das Tal für sie tun kann, sondern sie von sich aus fragen, was sie für das Tal tun können. Diese selbstlose Einstellung hat Kennedy später als amerikanischer Präsident versucht seinen Landesgenossen schmackhaft zu machen. Die Quittung dafür hat er am 22. November 1963 in den Strassen von Dallas kassiert. Man kann sagen, dass er sich an diesem Tag die Gegenargumente durch den Kopf gehen lassen musste. Würden in der Schweiz Hunger Games durchgeführt werden, müsste man bei uns im Tal-Distrikt keine Teilnehmer auswählen – jeder von uns würde sich freiwillig melden. Bräuchten wir vier Freiwillige, die auf einer gefährlichen Reise einen Ring ins Puschlav tragen müssten, um ihn im Feuer des Schicksalsberges zu zerstören, jeder von uns würde nach vorne treten. Und falls man mal jemanden benötigt, der freiwillig eine Nacht mit Marine Le Pen verbringt um den nächsten Weltkrieg zu verhindern, ein Engadiner Skilehrer würde sich bestimmt todesmutig der Sache annehmen. Zum Wohl der Menschheit. Wir Engadiner halten von Natur aus zusammen. Das hat historische und evolutionäre Gründe. Bevor der Vereina-Tunnel uns zuverlässig an die Aussenwelt angeschlossen hat, waren wir im Winter nicht selten eingeschneit und auf uns alleine gestellt. Wer damals nicht kooperieren konnte, der wurde gesellschaftlich geächtet und durfte nicht bei den Aprés-Schneeschaufelpartys, Aprés-Feuerholzsammelpartys und Aprés-Schneehasenjagdpartys partizipieren. Das heisst, er hatte eine ganze Saison lang keinen Sex und seine Ego-Gene sind aus dem Genpool des Engadins verschwunden. Geblieben ist ein Stamm von Voluntaris. Gut, zugegeben, es ist nicht nur alles genetisch bedingt. Ein wenig Erziehung gehört auch dazu. Meine Eltern haben mich und meinen Bruder während unserer Kindheit in den Sommerferien immer wieder nach Sent zum Heuen geschickt. Bevor sie uns das erste Mal abgeschoben hatten, haben sie uns das Ganze noch als fröhliches Sommerlager verkauft. Aber spätestens nach der ersten 12-Stunden-Schicht, in der wir im senkrechten Hang unter der brennenden Sonne mit unseren herzigen Kinderhändchen das Gras zusammenrechen durften, haben wir realisiert, dass sich viel eher unsere Eltern gerade einen schönen Sommer gönnten. Aber wir haben uns in der fremdsprachigen Region tapfer durchgeschlagen. Die Wörter «Schweiss», «Sonnenstich» und «Kreuzotterbiss» haben wir Putersprechenden ziemlich schnell auch auf Vallader gelernt. Unvergessen blieb das schöne Gefühl, seine Zeit sinnvoll eingesetzt zu haben. Die nächste Gelegenheit, Engadiner Voluntaris im Einsatz zu bewundern, bieten die FIS-Skiweltmeisterschaften vom 6. bis zum 19. Februar in St. Moritz. Ich wünsche allen viel Erfolg und viel Spass.
Wenn man während einem Event im Engadin unterwegs ist, begegnet man früher oder später einem Voluntari. Das ist so sicher, wie man am Metallica-Konzert auf einen Schwerhörigen trifft oder in der untersten Schublade auf Mario Barth.

 

Wenn man Kulturpessimisten glauben darf, sollten Voluntaris von Pro Specie Rara unter Artenschutz gestellt werden. Sie glauben, dass Menschen, die auf freiwilliger Basis für ein sprichwörtliches Butterbrot etwas für die Gesellschaft leisten, ungefähr so akut vom Aussterben bedroht wie die Wahrheit im postfaktischen Zeitalter. Ich sehe das nicht so düster. Wenn man sich nämlich im Engadin umschaut, kann man durchaus wieder Optimismus tanken. Die Dichte an Voluntaris ist hier so hoch wie die Dichte an gemachten Brüsten im Spielerfrauen-Sektor von Fussballstadien.

 

Grossanlässe könnten im Engadin nicht durchgeführt werden, wenn sich die Organisatoren nicht auf die tatkräftige Unterstützung hunderter Gratisarbeiter verlassen könnten. Dabei ist die Gratisarbeit historisch gesehen nichts Spezielles. Manches Bauwerk von der Antike bis zum Stalinismus hätte ohne den Einsatz unzähliger Sklaven oder Häftlinge unmöglich realisiert werden können. Und auch heute bekleiden wir uns hauptsächlich mit Klamotten, die dank Gratisarbeit in Bangladesch oder ähnlichen Orten hergestellt wurden. Doch während Sklaven oder Arbeiter in der dritten Welt durch die Peitsche oder die ökonomische Situation gezwungen werden, umsonst für uns zu arbeiten, macht der Engadiner Voluntari das aus freien Stücken.

 

Während den Weltcup-Rennen oder den Skiweltmeisterschaften in St. Moritz stehen die Voluntaris tagelang bei Temperaturen die kühler sind als das Klima zwischen Angelina Jolie und Brad Pitt im Einsatz. Sie rutschen die Pisten flach, verpflegen die Sportler, kümmern sich um die Logistik, kratzen die verunfallten Rennfahrer von der Piste oder schüttelten diese am Abend aus den Fangnetzen. Diesem Aufwand steht auf der Ertragsseite Folgendes gegenüber: ein gutes Gefühl, ein modischer Skianzug und ein paar neue Bekanntschaften. Also nichts, was man nicht auch mit MDMA, Kreditkarte oder Tinder erschwingen könnte. Man kann also sagen, dass Voluntaris das krasse Gegenteil eines Investment-Bankers darstellen: sie leisten viel für wenig.

 

Der Engadiner Voluntari ist der vollkommene Mensch. Friedrich Nietzsche ist ihm bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begegnet. Als der Philosoph in Sils beim Spazieren über die Welt, über den Tod Gottes und über die hervorragenden Pizzas auf der Mittelstation der Corvatsch-Bahn nachdachte, haben bestimmt ein paar Einheimische vor seinen Füssen für gratis null Franko einen Wanderweg für ihn freigeschaufelt. Das Konzept vom Übermenschen muss Nietzsche ganz einfach im Engadin entwickelt haben.

Auch John F. Kennedy kam als Gast in das Engadin. Er war ebenfalls davon begeistert, dass die Leute hier nicht fragen, was das Tal für sie tun kann, sondern sie von sich aus fragen, was sie für das Tal tun können. Diese selbstlose Einstellung hat Kennedy später als amerikanischer Präsident versucht seinen Landesgenossen schmackhaft zu machen. Die Quittung dafür hat er am 22. November 1963 in den Strassen von Dallas kassiert. Man kann sagen, dass er sich an diesem Tag die Gegenargumente durch den Kopf gehen lassen musste.

 

Würden in der Schweiz Hunger Games durchgeführt werden, müsste man bei uns im Tal-Distrikt keine Teilnehmer auswählen – jeder von uns würde sich freiwillig melden. Bräuchten wir vier Freiwillige, die auf einer gefährlichen Reise einen Ring nach Mordor tragen müssten, um ihn im Feuer des Schicksalsberges zu zerstören, jeder von uns würde nach vorne treten. Und falls man mal jemanden benötigt, der freiwillig eine Nacht mit Marine Le Pen verbringt um den nächsten Weltkrieg zu verhindern, ein Engadiner Skilehrer würde sich bestimmt todesmutig der Sache annehmen. Zum Wohl der Menschheit.
 

Wir Engadiner halten von Natur aus zusammen. Das hat historische und evolutionäre Gründe. Bevor der Vereina-Tunnel uns zuverlässig an die Aussenwelt angeschlossen hat, waren wir im Winter nicht selten eingeschneit und auf uns alleine gestellt. Wer damals nicht kooperieren konnte, der wurde gesellschaftlich geächtet und durfte nicht bei den Aprés-Schneeschaufelpartys, Aprés-Feuerholzsammelpartys und Aprés-Schneehasenjagdpartys partizipieren. Das heisst, er hatte eine ganze Saison lang keinen Sex und seine Ego-Gene sind aus dem Genpool des Engadins verschwunden. Geblieben ist ein Stamm von Voluntaris.
 
Gut, zugegeben, es ist nicht nur alles genetisch bedingt. Ein wenig Erziehung gehört auch dazu. Meine Eltern haben mich und meinen Bruder während unserer Kindheit während den Sommerferien immer wieder nach Sent zum Heuen geschickt. Bevor sie uns das erste Mal abgeschoben hatten, haben sie uns das Ganze noch als fröhliches Sommerlager verkauft. Aber spätestens nach der ersten 12-Stunden-Schicht, in der wir im senkrechten Hang unter der brennenden Sonne mit unseren herzigen Kinderhändchen das Gras zusammenrechen durften, haben wir realisiert, dass sich viel eher unsere Eltern gerade einen schönen Sommer gönnten. Aber wir haben uns in der fremdsprachigen Region tapfer durchgeschlagen. Die Wörter «Schweiss», «Sonnenstich» und «Kreuzotterbiss» haben wir Putersprechenden ziemlich schnell auch auf Vallader gelernt. Unvergessen blieb das schöne Gefühl, seine Zeit sinnvoll eingesetzt zu haben.
 
Die nächste Gelegenheit, Engadiner Voluntaris im Einsatz zu bewundern, bieten die FIS-Skiweltmeisterschaften vom 6. bis zum 19. Februar in St. Moritz. Ich wünsche allen viel Erfolg und viel Spass.

Dominik Brülisauer

Dominik Brülisauer ist 1977 geboren und in Pontresina aufgewachsen. An der ZHDK in Zürich hat er Theorie für Kunst, Medien und Design studiert. Momentan arbeitet er als Werbetexter, Kolumnist und Schriftsteller in Zürich. Die Bücher «Schallwellenreiter», «Der wahre Liebeslebensratgeber» und «Leben kann jeder» sind im Handel erhältlich. Er besucht das Engadin heute noch regelmässig um im Pöstli Bier zu trinken, auf der Diavolezza zu Snowboarden und um seiner Mutter seine Wäsche abzugeben.
facebook.com/dominikbruelisauer