20.04.2017 Dominik Brülisauer 5 min
Bild: Dominik Brülisauer

Bild: Dominik Brülisauer

Wenn man am Wochenende im Engadin unterwegs ist, begegnet man früher oder später einem Heimweh-Engadiner. Das ist so sicher, wie man in Venedig auf Verliebte trifft, im Bordell auf Verheiratete oder im Fitnesscenter auf Frisch-Geschiedene. Der Heimweh-Engadiner lebt irgendwo im Unterland in der Diaspora. Jedes Wochenende eilt er nach hause. Vor seinem Heimatdorf wartet er geduldig auf die Dunkelheit, dann erst traut er sich mit seinem Zürcher Nummernschild einzufahren. Sein Auto versteckt er irgendwo diskret in einer Seitengasse. Dabei denkt er weinend an den Tag zurück, als er seine geliebte Bündnernummer abschrauben musste. Für wie viele Jahre er sich deswegen noch kastriert fühlen muss, daran möchte er gar nicht denken. Zuhause angekommen übergibt er seiner Mutter seine dreckige Wäsche und erfreut sich an seinem ersten warmen Essen seit Tagen. Dieses ist mit viel Mamiliebe gewürzt und wird mit vielen Kindheitserinnerungen serviert. Im Unterland studiert der Heimweh-Engadiner an einer Hochschule oder Universität über die Ironie nach, warum er das sonnigste Hochtal der Welt verlassen hat, um hier unten in der Nebelsuppe an seinen Perspektiven zu arbeiten. Das gleiche gilt für Engadiner, die in Grosstädten wie Solothurn, Wohlen oder Thalwil eine Anstellung gefunden haben, und jetzt als Verdingkinder ihr Dasein fristen. Auch sie denken mit einem weinenden Herzen an die saftigen Alpwiesen in der Heimat, an die Kuhladina oder an den Geissenpeter. Während dem Arbeiten checkt der Engadiner Wirtschaftsflüchtling die Webcams auf der Diavolezza, auf dem Piz Nair oder vor der Hossa Bar. Amüsiert verfolgt er, wie Touristen in Gletscherspalten fallen, grüsst die vorbeifliegenden Steinadler oder beobachtet seine alten Bekannten, wie sie genüsslich ihr Frühstücksbier geniessen und traditionsgemäss bis zum Feierabendbier gleich in der Sonne sitzen bleiben. Engadiner Reality-TV eben. Dazwischen liest er die Engadiner Post und hört Radio Engiadina. Schliesslich möchte er ja am Wochenende zuhause mitreden können. Da darf er nicht verpassen, wer das Schülerrennen gewonnen oder für welche Festzeltfarbe sich der Gemeinderat nach dreistündiger Sitzung entscheiden konnte. Engadiner sind Herdentiere. Das heisst, sie verkehren auch ausserhalb ihres angestammten Territoriums am liebsten untereinander. Falls der Heimweh-Engadiner tatsächlich mal mit einem Unterländer reden muss, betont er seinen Bündnerdialekt extra penetrant. Auf die Frage seines Gegenübers, wo aus Graubünden er denn herkomme, antwortet er mit stolzer Brust: «Aus dem Engadin. Das kennst du aus den James-Bond-Filmen, wegen den Skiweltmeisterschaften und von George Clooney». Ich persönlich bin 2003 Zwecks Studium von Pontresina nach Zürich gezogen. Selbstverständlich war es für meine Eltern schwierig, ihren blutjungen Lieblingssohn in die Fremde ziehen zu lassen. Untypisch für einen Engadiner habe ich nämlich mein Elternhaus bereits vor dem Erreichen des 30sten Lebensjahrs verlassen. Obwohl meine Mutter von Zürich ungefähr gleich viel Ahnung hat wie ein Sumoringer vom Bodymassindex, liess sie keine Gelegenheit aus, mich vor den Gefahren zu warnen, die in diesem Betondschungel auf mich warten würden. Das gefährlichste waren ihrer Meinung nach die bösen Tramschienen. Von den Cousins von Nachbarn von Freunden von Bekannten von Verwandten hat sie Geschichten darüber gehört, dass in Zürich regelmässig Fahrradfahrer mit ihren Rädern in die Gleise geraten und stürzen. In den Vorstellungen meiner Mutter stapeln sich in Zürich die Leichen von Velölern links und rechts von den Gleisen. Diese werden jeden Abend vom letzten Tram eingesammelt und auf dem Friedhof Abstellgleis verscharrt. Für meine Mutter sind die Tramschienen für Zürich das gleiche wie Al-Qaida für New York oder das Lebensmittelinspektorat für Findus – eine absolute Horrorvorstellung.
Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich in meinem verflixten siebten Jahr in Zürich tatsächlich mal morgens um vier Uhr mit meinem Vorderrad in einer Tramschiene steckengeblieben und mit meinem Gesicht unsanft auf den Asphalt geknallt bin. Als ich ein Wochenende später immer noch sichtlich lädiert im Engadin aufgetaucht bin, habe ich ihr allerdings erklärt, dass ich von einer Horde Neonazis verprügelt worden bin. Diesen Triumph konnte ich ihr einfach nicht gönnen. Zu ihrer Beruhigung habe ich ihr logischerweise auch noch gesagt, dass die Nazis nach der Prügelei wesentlich schlechter ausgesehen haben als ich. Für alle anderen Mütter, die ihren Nachwuchs bald nach Zürich verlieren, warnt eure Kinder vor einer richtigen Gefahr: Den hinterhältigen Unterschriftensammlern. Diese lauern strategisch gut positioniert in ziemlich jeder Fussgängerzone. Als unschuldiger Engadiner, der gerne ein wenig die neue Umgebung erkunden möchte, ist man ihnen hoffnungslos ausgeliefert. In meiner ersten Woche in Zürich wurde ich unter anderem Mitglied beim WWF, im Verein der Grosswildjäger, beim Hauseigentümerverband, bei der Obdachloseninterssensgemeinschaft, bei den Gönnern vom Grasshopper Club Zürich und im Fanclub des FC Zürich. Meine Mitgliedschaften in so gegensätzlichen Organisationen sind heute zu 99% für meine multiplen Persönlichkeitsstörungen verantwortlich. Das behauptet jedenfalls der Brülisauer. Dominik und ich sind uns da nicht so sicher.

Dominik Brülisauer

Dominik Brülisauer ist 1977 geboren und in Pontresina aufgewachsen. An der ZHDK in Zürich hat er Theorie für Kunst, Medien und Design studiert. Momentan arbeitet er als Werbetexter, Kolumnist und Schriftsteller in Zürich. Die Bücher «Schallwellenreiter», «Der wahre Liebeslebensratgeber» und «Leben kann jeder» sind im Handel erhältlich. Er besucht das Engadin heute noch regelmässig um im Pöstli Bier zu trinken, auf der Diavolezza zu Snowboarden und um seiner Mutter seine Wäsche abzugeben.
facebook.com/dominikbruelisauer