Ohne Freunde geht kein Umzug vonstatten. Foto: Ruth Bossart
Unser Wohnungsdach ist undicht und es tröpfelt immer intensiver. In der Schweiz würde ich mir Sorgen machen und die Gelben Seiten nach einem Dachdecker-Pikettdienst durchforsten. In der Türkei greife ich zum Handy und frage unseren Hauswart, ob er einen Freund hat, der helfen könnte. Natürlich, sagt der Hauswart Ibrahim. Bir saniye – einen Moment.
Wie vermutet, macht der Freund des Hauswartes noch am gleichen Nachmittag den kaputten Dachziegel ausfindig, klatscht eine Portion Beton darüber und im Nu ist die Tropferei zu Ende. Die Wasserflecken auf der Tapete hat Erol, der Freund, später überpinselt. Schliesslich ist er auch Maler.
Erol züchtet zudem Bienen und ging mit unserem Hauswart zur Schule, im gleichen kleinen Dorf am Schwarzen Meer. Heute wohnen beide in Istanbul. Ergo ist Erol ein Freund unseres Hauswartes. Erol, der Imker, kann nicht nur Honig schleudern und Wohnungen malen, er klettert auch auf Balkonbrüstungen, um Parabolspiegel zu montieren, repariert defekte Klospülungen und eben – undichte Dächer.
Und wenn er nicht weiterkommt, hat auch Erol Freunde. Zum Beispiel den Schreiner, der nicht nur Masschränke zimmert, sondern auch Fahrräder repariert oder Computernetzwerke installiert.
Von solcher Effizienz verwöhnt, hört man sich bestürzt Geschichten aus der Heimat an: Meine Freundin musste 24 Stunden auf einen Heizungstechniker warten, als ihr Kessel im Keller undicht war. Natürlich hat in der Schweiz kaum jemand einen Freund, der Heizkessel flickt – auch keinen Freund, der einen Freund hat. Und so musste die Familie im Stundentakt - Nacht und Tag - die Eimer leeren, bis schliesslich der Pikett-Mann auftauchte. Freunde in der Türkei kommen jeder Zeit und sofort - auch am Sonntag.
Ibrahim, der Hauswart, hat nebst vielen Freunden viele Talente: er ist nicht nur begnadeter Pragmatiker sondern auch Gärtner, der wunderbare Rosenstöcke zieht. Und: er ist ein Tierfreund. Alle Hunde im Quartier mögen ihn – sogar die Strassenhunde. Und so haben ihn stark beschäftige Hundehalter angefragt, ob er sich um ihre Vierbeiner kümmern könnte. Natürlich hat er zugesagt, und da die Hundehalter auch Freunde-Hundehalter haben, spaziert Ibrahim heute mit rund einem Dutzend Tiere täglich mehrmals durchs Quartier.
Freundschaften, man könnte sie auch Beziehungen nennen, sind das A und O in der türkischen Welt. Ohne sie geht gar nichts. Keine Reparatur, keinen Zahnarzttermin, keine Wohnungssuche, kein Interviewtermin, keine Putzfrau.
Freundschaftliche Empfehlungen haben grosse Vorteile, denn sie sind verbindlicher. Der Anwalt meines Freundes will auch für mich ein guter Anwalt sein. Denn er kann seinen Freund nicht enttäuschen. Und wenn er gute Arbeit leistet, werde auch ich ihn meinen Freunden weiterempfehlen. So bekommt er nicht nur neue Klienten sondern neue Freunde mit Freunden.
Diese Beziehungsgeflechte sind auch Sicherheitsnetz für aussergewöhnliche Situationen. Als Ibrahims Tochter einen Unfall hatte und die Arztrechnungen die Möglichkeiten unseres Hauswartes überstiegen, erfuhren die Freunde davon – und die Freunde der Freunde. Dank anonymen Spenden musste der Hauswart keine Schulden machen.
Das Allerschönste für mich aber ist, dass in diese Beziehungskreise auch Ausländer aufgenommen werden. Das hat mit einer anderen wunderbaren türkischen Tradition zu tun – der legendären Gast-Freundschaft.
Ruth Bossart
Ruth Bossart ist Historikerin und lebt mit ihrem Mann und Sohn Samuel seit diesem Frühjahr in Bern. Zuvor berichtete sie für das Schweizer Fernsehen aus Indien. Laufen, Ski- und Velofahren gelernt hat Samuel in Pontresina und Zuoz, bevor die Familie 2010 nach Singapur und später in die Türkei zog. Jedes Jahr verbringen die Drei aber immer noch mehrere Wochen im Engadin – nun nicht mehr als Einheimische, sondern als Touristen.
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