Foto: Zirkus Nock
Wie erfüllend, im Zirkuszelt endlich den magischen Innenhof zu finden, der immer dann traumhaft als kühles Halbdunkel aufscheint, wenn eine Signora oder ein Herr mit Hund in einer italienischen Stadt ein Portal aus Holz oder Eisen öffnet und mit einer Selbstverständlichkeit eintritt, die mir vielleicht verwehrt bleiben wird. Dame, Herr und Hund verschwinden, als wären sie ein Zaubertrick. Mein Auge sieht kurz eine Skulptur, ein Wandbild, einen Springbrunnen, einen Schachbrettboden, links und rechts abgehende Marmortreppen, Leuchter, Spiegel, einen Lift, aber auch Palmen, Rosen und Glyzinien - oder aber eine schwarze Wand, ein Durcheinander mit Kinderwagen, ein Velo mit nur einem Rad, einen Sandhaufen. Was würde dort alles geschehen, wenn die Tür zu war?
Alles in diesem Innenhof kommt mir vor, als sei es mit Absicht dort, aus den besten Gründen. Um eine Geschichte zu erzählen. Von den Innen- und Hinterhöfen aus geht es entweder in den Palazzo, in dem vielleicht nur ein Mensch residiert, eine traurige Prinzessin zum Beispiel (dann wäre der Herr mit Hund ihr Diener), aber es kann auch sein, dass es in der Welt hinter dem Portal viele Wohnungen gibt, geheimnisvoll und verwinkelt, elegant und grosszügig wie die Menschen, die darin wohnen. Sind da auch Kinder? Kleine Menschen, die schon alles haben und wissen? Nur so kann ich mir Kinder vorstellen, die hinter einem solchen Eingang leben. Es ist bestimmt bunt in dieser Welt, überraschend, voller Abenteuer, aber auch voller Ordnung und Disziplin.
Die Kinder üben täglich. Das ist Pflicht. Sie müssen sich dem Ambiente würdig erweisen. Wie die kleine Zirkusprinzessin im schwarzen Samtkleid, als sie im Juni vom karamellfarbenen Pony mit der gekämmten Mähne steigt, ein Rädchen schlägt und sich tief verneigt. Ihre langen gewellten Haare berühren das Sägemehl der Manege. Dann rennt das freche Mädchen weg.
Ich sehe alles, ich bin dabei. Im Circus Knie. 12. Reihe. Die zerknüllte Eintrittskarte in der schwitzenden Hand. Die Zulassung für das Spektakel. Ein Spektakel, das Menschen erlaubt, in der Mitte des Raums zu stehen und die Zuschauer um Applaus zu bitten für den Überschlag, den waghalsigen Ritt, für Poesie und Pathos, fürs Lustigsein, fürs Doof- und Verrücktsein, für Witz und Komik, für falsche Töne und gute Laune, für phantasievolle Verkleidung, geschmeidige Figur, für Muskeln, Mut, Kraft, Konzentration, für Wendigkeit und Spannung, für Glitzer, Glamour, Grazie, Gleichgewicht, Harmonie und Rhythmus. Im Innenhof der Stadt. Applaus!
Applaus auch im Innenhof des Engadiner Dorfes und am Rande des Sees! Wer wissen will, was hinter dem Portal aus Stoff geschieht, der Circus Nock kommt nach Scuol (18.-21.7.), nach Zernez (22.-23.7.), nach Samedan (25.-26.7.) und nach St. Moritz (28.7.-9.8.).
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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