Der Zeiger steht auf kurz vor neun Uhr. Philipp Bosshard wartet im Vorraum des Ovaverva-Hallenbades. Jeden Montag, Mittwoch, Freitag und Samstag steht Schwimmtraining auf dem Programm, um sieben Uhr morgens geht es jeweils los. Er trägt eine schwarze Mütze mit einem «Home-of-Triathlon»-Schriftzug. Seine Trainerin, Semira Bontognali, kommt aus der Umkleide. Heute geht es nicht mehr auf das Velo oder den Trail, aber ein gemeinsamer Kaffee muss noch sein. Philipp winkt einer jungen Frau zu, die auch ihr heutiges Schwimmtraining beendet hat. «Bye, Barb!», ruft er ihr zu, seine stahlblauen Augen blitzen auf, wenn er lacht.
Schwerer Brandunfall
«Auch heute noch kostet es mich unglaubliche Überwindung ins Hallenbad zu gehen,» erzählt der 35-Jährige. «Man ist nackt, verwundbar. Ich spüre die Blicke der anderen.» Vor acht Jahren hat er bei einem Arbeitsunfall 88 Prozent seiner Haut verbrannt. Zwei Monate war er im künstlichen Koma, ein Jahr verbrachte er auf der Intensivstation, zwölf Monate Reha standen danach auf dem Programm. Trotz der geringen Überlebenschance, die ihm die Ärzte prognostizierten, kämpfte er sich seinen Weg ins Leben zurück. Die Haut, die ihm die Chirurgen bei über 60 Operationen transplantierten, wurde im Labor gezüchtet; heute ist diese fragil und vernarbt.
Erster Wettkampf im 2018
Noch vor wenigen Jahren ist es ihm nur unter Schmerzen und grosser Mühe gelungen, eine Treppe zu erklimmen. Doch davon liess er sich nicht unterkriegen. «Während meiner Physiotherapie habe ich mir zusammen mit meiner Sportphysiotherapeutin das Ziel gesetzt, an einem Triathlon teilzunehmen.» Gesagt, getan: Im 2018 schafft er das bis dato Undenkbare und absolviert seinen ersten Triathlonwettkampf. Seine neue Haut kann nicht mehr richtig schwitzen, er muss bei Läufen oder beim Velofahren Kühlwesten tragen. Aber trotz seiner herausfordernden Ausgangslage nimmt er mittlerweile an mehreren Wettkämpfe pro Jahr teil. «Mein Körper ist heute mein Beruf,» sagt er. Nicht nur hält das tägliche Training seine Haut elastisch, der Sport ist auch sein Schutzschild. «Sobald ich in der Athletenrolle stecke, kann ich die Opferrolle ablegen. Dann bin ich bei mir, bin fokussiert und denke nicht darüber nach, wie die anderen auf mein Äusseres reagieren.»
Seit Januar diesen Jahres wohnt er in Silvaplana. Nicht nur wegen der guten Trainingsbedingungen und gemässigten Temperaturen kam der Hochfeldener ins Engadin. Sein Umzug war auch eine Flucht. «Zuhause werde ich von der Gesellschaft als Opfer gesehen und auch so behandelt. Hier im Engadin bin ich jedoch seit dem ersten Tag an Athlet.»
Trainerin spielt Schlüsselrolle
Eine grosse Rolle bei seinem Neuanfang im Engadin spielte Bontognali. Seit April 2020 ist die Engadinerin seine Trainerin. Sie erinnert sich noch gut an das erste Telefonat mit dem Ausnahmesportler. «Ich kannte seinen Werdegang damals nicht, hatte auch kein Bild von ihm vor Augen. Mein erster Eindruck von ihm war: Er klingt so freundlich und offen. Von der ersten Sekunde an hat es für mich auf zwischenmenschlicher Ebene gepasst.» Sie selbst nahm früher auch an Triathlonwettkämpfen teil, musste aus gesundheitlichen Gründen jedoch ihre Athletenkarriere an den Nagel hängen. Von der Triathlon-Koryphäe Brett Sutton liess sie sich dann zum Coach ausbilden, wagte vor zwei Jahren den mutigen Schritt in die berufliche Selbständigkeit.
Eine Herausforderung
Sie nimmt ihren Schützling als spannende Herausforderung wahr. «Für mich war direkt klar: Ich möchte ihn trainieren, ich traue mir das zu.» Bosshard ergänzt: «Genau das schätze ich an ihr: Sie empfindet meine Ausgangslage als interessant und herausfordernd – und nicht als Hindernis oder Manko.» Und die Zusammenarbeit fruchtet bald. Bontognali lotet nicht nur Bosshards körperliche Leistungsgrenze aus, sondern auch seine mentale. Fasst ihn nicht mit Samthandschuhen an, sondern fordert ihn heraus. Bontognali lacht: «Ja, das mache ich noch ganz gerne: Ihn ins kalte Wasser schubsen.» So brachte sie Bosshard das Langlaufen bei, im 2021 meisterten die beiden gemeinsam die Marathondistanz des Engadiner Skimarathons. «Sie bringt mich immer wieder aus dem Konzept, holt mich aus der Komfortzone heraus,» resümiert Bosshard. Seit Beginn absolviert er sein Schwimmtraining im Ovaverva gemeinsam mit anderen Spitzensportlern der Trainingsgruppe «Home of Triathlon». Noch vor zwei Jahren wäre es für ihn undenkbar gewesen, in einer Gruppe zu trainieren und sich so zu exponieren, heute möchte er auf das Umfeld nicht mehr verzichten. «Dadurch, dass sie mit mir so umgeht, wie mit jedem anderen Athleten auch, wurde ich auch von den anderen Athleten direkt als Sportler wahrgenommen. Und nun sind wir alle wie eine Familie,» resümiert Bosshard.
Paralympics-Teilnahme
Auch die sportlichen Erfolge lassen nicht lange auf sich warten: Beim diesjährigen Triathlon in Almere, Holland, belegt er in der Mitteldistanz Overall den 490. Platz – von 863 Teilnehmern. An das Rennen erinnert er sich gut, stellte es doch einen weiteren, positiven Wendepunkt in seinem Leben dar. «Mir sind während des Laufes vor Glück Tränen in die Augen geschossen, denn ich habe dann erst richtig realisiert, zu was mein Körper wieder fähig ist. Das war unbeschreiblich.» Und sein Ziel für die Zukunft? «Ich möchte ein noch besserer Athlet werden, weiter an mir arbeiten, noch mehr aus mir herausholen.» Auch eine Teilnahme bei den Paralympics kann er sich vorstellen.
Romanisch lernen
Und auf diesen Traum trainiert er im Engadin, seinem neuen Lebensmittelpunkt, mit welchem auch ein weiteres Ziel – ganz unsportlicher Natur – zusammenhängt: «Er muss bis nächsten März ein Chalandamarz-Lied auf romanisch lernen, dann geht er als Einheimischer durch», lacht Bontognali. «Aber du weisst ja, du hast dabei Unterstützung von mir und den anderen Sportlern», verspricht sie ihm.
Autorin: Denise Kley
Diskutieren Sie mit
Login, um Kommentar zu schreiben