«Engadiner Post/Posta Ladina»: Sepp Blatter, Sie sind 86-Jährig, haben bislang ein mehr als nur spannendes Leben gelebt. Bereuen Sie, etwas nicht getan zu haben?

Sepp Blatter: Ich habe keine Zeit mehr zu bereuen, was ich nicht gemacht habe. Ich hatte und habe ein wunderschönes Leben. Und generell gilt: Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Aber ...  eigentlich wollte ich mal Radioreporter werden. Aber jetzt ist dieser Zug für mich wohl abgefahren.

 

Sind Sie altersmilde geworden?

Nein! Mein Kampfgeist und meine Schaffenskraft sind ungebrochen. Es gibt noch viel zu tun – auch an der juristischen Front. Milde spüre ich in keiner Weise.

 

Würden Sie gerne 300 Jahre alt werden?

Sicher nicht. Aber ich wäre zufrieden, wenn ich meinen 100. Geburtstag erleben dürfte.

 

Wir treffen uns hier in St. Moritz zum Gespräch. St. Moritz hat unter vielen anderen zwei ganz berühmte Söhne mit dem gleichen Familiennamen, einer war Sänger und Entertainer, und der andere Hockeyspieler. Haben Sie die Torrianis gekannt? 

Persönlich nur den Eishockeyspieler. Das ist aber sehr lange her, und die Begegnung mit ihm war eigentlich keine sehr gute.

 

Erzählen Sie!

Ich war, noch ein Jungspund, in den Sechzigern während drei Jahren Zentralsekretär des Schweizerischen Eishockey-Verbandes. Und Bibi Torriani war zu der Zeit Trainer der Eishockey-Nationalmannschaft. Der damalige Verbandspräsident Josef «Sepp» Kuonen, auch ein Walliser übrigens, war mit Bibi Torrianis Arbeit nicht mehr zufrieden und wollte ihn entlassen. Kuonen hatte aber, wie soll ich das sagen …  nicht den Mut, Torriani das persönlich mitzuteilen. Und hat mich vorgeschickt. Torriani hat mich dann mit den Worten «Dich jungen Trübu nehm ich doch nicht ernst» abgekanzelt.

 

Vom Eishockey zum Fussball. Wann und wie war Ihr Start bei der FIFA?

Das war 1975. Ich wurde als Entwicklungshelfer eingestellt und bekam vom damaligen Präsidenten Havelange, einem Brasilianer, den Auftrag, Fussball «weltweit» zu machen. Bis zu der Zeit hat Fussball nur in Südamerika und in Europa «stattgefunden». Es wurde zwar überall gekickt, aber nicht weltweit organisiert gespielt. Und es hat funktioniert. Weil Fussball Menschen verbindet. Und weil jeder Mensch ein Ziel braucht. Im Fussball ist das einfach: ein Tor zu machen, ist das Ziel. Heute haben wir, hat der Fussball, zwei Milliarden «Follower». Mehr als jedes Land oder jede Religion.

 

Die WM in Katar beginnt am Sonntag mit der Partie des Gastgeberlandes gegen Ecuador. Noch nie war eine Fussball-WM derart umstritten. Sie haben 2010 den heute berühmt-berüchtigten Envelope vor laufender Fernsehkamera geöffnet. Haben Sie vorher schon gewusst, was auf dem Papier im Umschlag stehen wird?

Nein! Ich war völlig perplex, als ich «Katar» gelesen habe. Man hat mir das im Fernsehen bestimmt auch angesehen. Aber ich war Chef des Gremiums und musste den Entscheid verkünden.

 

Sie haben allerdings erst kürzlich gesagt, dass Katar ein Irrtum sei, aber kein Fehler. Wo liegt der Unterschied?

Fehler muss man bestrafen. Irrtümer kann man verzeihen.

 

Wie konnte es denn zu diesem Irrtum überhaupt kommen?

Nun, ich war mir im Vorfeld sicher, dass die Bewerbung Katars keine Chance haben wird. Das Land ist kaum grösser als der Kanton Luzern. Im Sommer ist es da zum Fussballspielen zudem viel zu heiss. Also müsste die WM im Winter an Weihnachten stattfinden. Unmöglich. Die Wahl war auch eine persönliche Niederlage für mich. Wir konnten bei der gleichzeitigen Vergabe von zwei Weltmeisterschaften keinen Konsens finden. Und ich habe es nicht geschafft, mein Exekutiv-Komitee bis zum Schluss zusammenzuhalten, um gemeinsam zu beschliessen, 2018 die WM nach Russland und 2022 an die USA zu vergeben.

 

Wer hat denn damals im Exekutiv-Komitee alles für Katar gestimmt?

Das weiss ich leider nicht genau. Die Abstimmung war anonym.

 

Katar hat die WM bekommen, und Ihr Nachfolger hat seinen Wohnsitz, was sie für einen grossen Fehler halten, in das Emirat verlegt. Werden Sie sich dennoch Spiele vor Ort anschauen?

Leider haben sowohl Gianni Infantino als auch der Emir von Katar vergessen, mir eine Einladung zu schicken.

 

Hätten Sie denn eine Einladung überhaupt angenommen? 

Ja, dann wäre ich nach Katar gereist. Jetzt verfolge ich die Weltmeisterschaft halt im Fernsehen.

 

Welche Nation holt sich in Katar den Weltmeistertitel?

Brasilien. Und die Schweiz erreicht den Halbfinal – obwohl beide in der gleichen Gruppe sind.

 

Verlassen wir die WM, bleiben aber beim Fussball. Sie haben selber aktiv und durchaus erfolgreich Fussball gespielt. Unter anderem in der 1. Liga beim FC Sierre. Welche Nummer trugen Sie auf Ihrem Rücken?

Die Neun.

 

Die Neun? Sie sind nur 1,71 Meter gross. Waren Sie ein Knipser? 

Ich bitte Sie! Ich war eine klassische Neun. Ein echter Mittelstürmer. Ich bin zwar eine Frühgeburt, kam schon nach sieben Monaten auf die Welt und war eher von kleinerem Wuchs, aber ich war von Anfang an ein Kämpfer. Nicht nur im Fussball.

 

Hatten Sie ein fussballerisches Idol?

Klar. Uwe Seeler – uns Uwe – der Mittelstürmer vom Hamburger Sportverein war mein ganz grosses Vorbild.

 

Apropos Vorbilder. Sie haben vermutlich jeden Menschen, der auf der Welt irgendwie wichtig ist oder war, persönlich getroffen und kennengelernt. Wer hat Sie am meisten beeindruckt?

Mandela! Weil ich seine Geschichte kannte. Ich war 1990 in Südafrika, als Nelson Mandela von Premier de Klerk aus der Haft entlassen wurde und habe ihn persönlich getroffen. Den anderen, die bei dem Treffen da waren, hat er freundlich die Hand gereicht. Mich hat er umarmt.

 

Wer ist der beste Fussballer aller Zeiten?

Man kann die Fussballer unterschiedlicher Epochen nicht miteinander vergleichen. In den 50er- und 60er-Jahren war Pelé das Mass aller Dinge. Später prägten die Europäer Johan Cruyff und Franz Beckenbauer das Spiel, dann kamen Michel Platini und Diego Armando Maradona – und heute plädiere ich für Lionel Messi, Cristiano Ronaldo und Kilian Mbappé. Müsste ich mich auf Schweizer fixieren, wären es Köbi Kuhn, und in der aktuellen Zeit Yann Sommer.

 

Warum haben Sie sich einmal als «Godfather» des Frauenfussballs bezeichnet?

Weil ich am Kongress 1986 in Mexiko den Auftrag erhalten habe, mich auch um die Entwicklung des Frauenfussballs zu kümmern. Dieser lag mir immer besonders am Herzen – deshalb sagte ich schon 1995: «The Future of Football is feminine.» Diese Einschätzung war nicht falsch.

 

Sie haben eine eigene Stiftung gegründet. Was war das Beste, was die Sepp Blatter Foundation bisher gemacht hat?

Etwas vom Besten war zweifellos die Unterstützung der Chasa Flurina, dem Heim für autistische Kinder im Engadin.

 

Welche Frage wurde Ihnen nie gestellt, obwohl Sie sie gerne beantwortet hätten?

In einem halben Jahrhundert im Scheinwerferlicht wurden mir vermutlich schon alle Fragen gestellt. Was ich aber am liebsten nicht mehr hören möchte: Sepp Blatter ist an allem schuld.

Autor und Foto: Daniel Zaugg