Weihnachtsgeschenke braucht Wildhüter Thomas Wehrli aus Pontresina keine mehr. «Viel spannender als Geschenke auszupacken ist es, die Daten des Chips aus der Fotofallen-Kamera in den Computer zu übertragen und zu schauen, welche Tiere von der Linse eingefangen worden sind», sagte der Wildhüter anlässlich eines Vortrages der Engadiner Naturforschenden Gesellschaft am Mittwochabend in Samedan. Was Wehrli am 24. September 2017 auf seinem Computer sah, musste für ihn wie Weihnachten, Geburtstag und Ostern zusammen gewesen sein: Der erste nachweisbare Fischotter im Oberengadin. Zuerst war sich Wehrli nicht sicher, was für ein Tier er da auf dem Foto sieht, doch dann kam die Bestätigung: Es handelt sich tatsächlich um einen Fischotter – eine kleine Sensation.

Von Österreich eingewandert
Dass der in der Schweiz gegen Ende des 20. Jahrhunderts ausgestorbene Predator eines Tages, genau gleich wie der Biber, wieder in der Region auftauchen würde, kam nicht überraschend. Denn in Österreich wuchs der Bestand innerhalb von wenigen Jahren im Jahr 2018 auf 3000 Exemplare an. Dafür gibt es gemäss Wehrli einen guten Grund: «Fast alle Österreicher haben einen Fischteich und sind Fischwirte. Entspre­chend können die Fischotter dort aus dem Vollen schöpfen.»

Energetisch immer am Limit
Denn der pelzige Marder ist ein Fischliebhaber und Opportunist. Er frisst das, was er am leichtesten jagen kann, im Oberengadin sind das die Forellen. Kotanalysen von 128 Proben haben ergeben, dass fast zwei Drittel seiner Nahrung aus Forellen bestehen, rund 20 Prozent sind Frösche und etwa 12 Prozent Äschen. Um nicht zu verhungern, muss der Fischotter etwa 15 Prozent seines Körpergewichts pro Tag an Nahrung aufnehmen. Bei einem Männchen sind das rund 1,4 Kilo, bei einem Weibchen etwa 900 Gramm. Fischotter haben einen extrem hohen Stoffwechsel, eine 30 Zentimeter lange Forelle ist nach rund drei Stunden bereits wieder ausgeschieden. Darum sind auch sehr viele Kotspuren zu finden, vorzugsweise auf etwas grösseren Steinen, wo die Tiere ihr Revier markieren. Fett setzen sie kaum an, Fischotter mit einem Fettanteil von mehr als drei Prozent gelten bereits als übergewichtig. «Die Tiere laufen energetisch immer am Limit, deshalb ist der Hungertod nicht selten», sagte Wehrli. Die anwesenden Fischerinnen und Fischer im rund 120-köpfigen Publikum interessierte nicht zuletzt die Frage, was die Rückkehr der Tiere für die Fischbestände bedeutet. Klar ist, Hauptnahrung sind Fische und von ihnen frisst er nicht zu wenig. Ein Fischmonitoring in einem Seitenbach bei La Punt Chames-ch hat gezeigt, dass die Bestände über vier Jahre stark zurückgingen, bevor letztes Jahr wieder deutlich mehr Fische gezählt worden sind.

Der Winter setzt Grenzen
«Wir haben mehr Fischotter in der Region, als wir denken», ist Wehrli überzeugt. Allerdings ist aufgrund der harschen Witterungsbedingungen im Oberengadin nicht mit einer massiven Zunahme zu rechnen. Aus dem einfachen Grund, dass im Winter die Seen und auch verschiedene Fliessgewässer gefroren sind und die Fischotter wegen der Eisdecke nicht an die Nahrung herankommen.
Überlebenswichtig für die Tiere sind neben einem reichhaltigen Nahrungsangebot vor allem Rückzugsmöglichkeiten und gute Aufzuchtsorte für die Jungtiere. Gemäss Wehrli können sich Fischotter zu jeder Jahreszeit paaren, pro Wurf gibt es zwei bis drei Junge, diese verlassen ihre Eltern bereits nach neun bis 13 Monaten. Ihre Wander­routen liegen primär entlang von Gewässern, und sie können bis zu 50 Kilometer pro Nacht zurücklegen. Nicht schlecht gestaunt haben dürften jene Skitou­renfahrer, die in Österreich einen Fischotter auf 2000 Meter über Meer angetroffen haben ...

Comersee einfach
Wo möglich, werden aus dem Kot DNA-Analysen entnommen, um beispielsweise das Wanderverhalten oder allfällige Paarungen der Tiere feststellen zu können. Ein Tier aus dem Oberengadin ist zum Comersee abgewandert, wo es ihm offenbar besser gefällt. Besser auf jeden Fall als jenem Fischotter, welcher sich den Fluss Maira im Bergell als neue Heimat ausgesucht hatte. Er kehrte gemäss Wehrli rasch ins Oberengadin zurück, weil ihm wohl das Nahrungsangebot im Bergeller Talfluss zum Überleben nicht ausreichte.
2018 und 2021 konnten sicher je zwei Jungtiere nachgewiesen werden, und auch aktuell ist ein Weibchen mit zwei Jungen unterwegs. Sehr speziell, und auch von Experten mit Erstaunen zur Kenntnis genommen worden ist der Fakt, dass sämtliche Jungtieraufzuchten im Oberengadin im Winterhalbjahr stattgefunden haben.

Noch nie direkt gesehen
Obwohl sich Wildhüter Thomas Wehrli sehr für den Wassermarder interessiert und obwohl er schon unzählige Kotspuren eingesammelt und Bilder aus der Fotofalle angeschaut hat, direkt gesehen hat er einen Fischotter noch nie. Und sämtliche Tiere, die ihm in die Fotofalle getappt sind, waren in der Nacht unterwegs. Ganz anders in Österreich, dort sind die Tiere auch tagsüber oft zu beobachten oder in London, wo sie in der Themse zu sehen sind.
Auch wenn Wildhüter Wehrli es nicht mehr spannend findet, Weihnachtsgeschenke auszupacken : Könnte er mit eigenen Augen einen Fischotter in der freien Natur beobachten, wäre das für ihn wohl das grösste Geschenk.

 

Autor: Reto Stifel

Foto: Amt für Jagd und Fischerei Grabünden

Video: Copyright: Amt für Jagd und Fischerei Grabünden