«Ich hatte Glück – ich habe überlebt», sagt Stephan Gmür aus Tarasp. Er sitzt in seinem Rollstuhl am Tisch, trinkt eine warme Schokolade und erzählt von seinem Unfall. Am 26. Juni 2014 war er mit dem Gleitschirm in der Luft. Nach einem Missgeschick ist er 20 Meter tief gefallen und hart auf den Beinen aufgeprallt. Es war ihm sofort bewusst, dass er sich den Rücken gebrochen hatte. Seitdem sitzt er mit einer Querschnittslähmung im Rollstuhl. «Seitdem feiere ich zweimal im Jahr Geburtstag. In meinem neuen Leben bin ich neun Jahre alt.» Oft denkt er auch an sein früheres Leben zurück: Damals war er ein lebensfroher, aktiver und sportbegeisterter junger Mann. Diese Attribute sind zwar geblieben, doch heute sei alles etwas schwieriger. Stephan Gmür ist oft auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Er selber möchte aber unabhängiger sein und den Alltag bewältigen können.

Barrierefreie Freizeitangebote
Auch darum engagiert sich Stephan Gmür für barrierefreie Angebote in der Region. Als Mitarbeiter der Destination Engadin Scuol Samnaun Val Müstair AG (TESSVM) hat er vor einigen Jahren den Verein «Scuol sainza cunfins» gegründet. Ziel des Vereins ist es, Hilfsmittel für Personen mit Beeinträchti­gungen in der Region zu beschaffen. Auch die TESSVM engagiert sich im Rahmen des Nachhaltigkeitslabels «Swisstainable» für barrierefreie Ange­bote in der Destination. «Es fehlt nicht an Ideen, sondern am Geld», stellt Gmür fest. Auch deswegen prüft er, wie er den Verein weiterentwickeln kann.

Angebote testen
Heute arbeitet Stephan Gmür bei einem Start-up-Unternehmen, welches Destinationen und Firmen in Sachen barrierefreie Freizeitangebot berät sowie unterstützt und die entspre­chen­den Angebote auch selber testet. «Über 22 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind potenzielle Gäste für barrierefreies Reisen», erklärt Gmür, «diese können viele Angebote nur bedingt oder gar nicht nutzen. Sie und ihre Angehörige fahren dorthin, wo die Angebote für alle erlebbar sind.» Momentan testet er in seinem neuen Job auch die Angebote in Arosa. So soll zum Beispiel auch der Seilpark ein barrierefreies Erlebnis werden. Auch Stephan Gmür ist auf diese und ähnliche Angebote angewiesen. Wenn es ums Skifahren geht, dann stellt er den österreichischen Nachbar­destina­tionen ein hervorragendes Zeug­nis aus. Das Unterengadin bekommt immerhin ein «Gut», während das Oberengadin «gar nicht barrierefrei» sei. Oder dann nur während einer Woche, wenn die Weltelite des para­lympischen Skisports in St. Moritz weilt.

Die Erlebnisse geniessen
Auch Stephan Gmür erreichte fast den Sprung in die Weltelite des Monoski­bobs. Doch bei einem Trainingsunfall im Sommer 2020 beim Wakeboarden mit einem speziellen Sitzrahmen brach er sich erneut den Rücken. «Deswegen steht heute nicht mehr der Wettkampf, sondern das Erlebnis im Vordergrund», sagt Stephan Gmür. Er geniesst die speziellen Momente und findet darin sein Glück. Entweder beim Wakeboarden oder beim Skifahren. Zwar nicht mehr sehr oft, dafür aber umso intensiver. «In meinem früheren Leben war alles selbstverständlicher. Heute schätze ich auch die kleinen Erfolge und geniesse die Glücksmomen­te.» Glück ist für Stephan Gmür ein Gefühl, welches oft auch mit einem Ort und mit Erlebnissen verbunden ist. Seine positive Einstellung zum Leben scheint bewundernswert. Doch Gmür hat auch immer wieder schlechte Tage, in denen er alles negativ sieht und hinterfragt. «Auch diese Momente sind seit dem Unfall intensiver», räumt er ein. Um so wichtiger sei es, sich immer wieder zu motivieren und den Neuanfang als Chance zu sehen.

Die Möglichkeiten analysieren
Stephan Gmür analysiert stets die Vor- und Nachteile seines Handelns und seiner täglichen Entscheide. Bei jedem Vorhaben muss er zuerst klären, ob dieses mit dem Rollstuhl auch realisierbar ist. Sind rollstuhltaugliche WCs vorhanden? Gibt es Treppen und Schwellen, welche den Zugang mit dem Rollstuhl verunmöglichen? Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt? «Was ist, wenn ich mich entscheide, die Steuern in Scuol bar zu bezahlen?», fragt er ironisch. Der Zugang zur Gemeindeverwaltung ist nämlich nicht barrierefrei. Generell stellt er fest, dass auch 20 Jahre nach Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes noch längst nicht alle öffentlichen Einrichtungen in der Schweiz barrierefrei sind. Deshalb wünscht er sich mehr Inklusion im Entscheidungsprozess und mehr Verständnis für die täglichen Herausfor­derungen einer beeinträchtigten Person. Ein konkretes Beispiel dafür ist: «Überall entstehen neue Elektroparkplätze. Aber hat sich je einer gefragt, ob diese auch für Personen im Rollstuhl nutzbar sind?» Gerne würde er sich ein Elektrofahrzeug anschaffen, doch sei dies aufgrund der nicht barrierefreien Ladestationen gar nicht möglich. Immerhin: Die Arbeit wird ihm und seiner Start-up-Firma nicht so rasch ausgehen. Die Vision der MountOn GmbH als seine Arbeitgeberin ist: Das Freizeitangebot in der Schweiz für alle erlebbar zu machen.

www.mounton.ch

Autor: Nicolo Bass