Engadiner Post: Pippo Pollina, 1986, vor 38 Jahren standen Sie zusammen mit Linard Bardill auf der Bühne vom Chapella Open Air in S-chanf. Erinnern Sie sich noch an diesen ersten Auftritt im Engadin?
Pippo Pollina: Ja, ich erinnere mich ganz genau daran. Wir sind zusammen mit einem holländischen Flötisten aufgetreten. Wie mich hatte Linard auch ihn auf der Strasse entdeckt.
Seither haben Sie unzählige Livekonzerte gegeben, 30 Alben aufgenommen, zuletzt «Nell’attimo» und mit «Der Andere» Ihren ersten Roman veröffentlicht. Woher nehmen Sie diese Schaffenskraft?
Ich finde das nichts Bewundernswertes. Jeder von uns tätigt mit grossem Engagement seine Aktivitäten des Lebens. Jede und jeder hat seine Rolle in der Gesellschaft, ich versuche, mit Engagement und Kreativität meinen eigenen Beitrag zu leisten. Viel mehr bewundere ich Menschen, die gut sind in Handarbeiten, im Handwerk. Wenn bei mir im Haus kein Strom oder Wasser fliesst, dann muss ich eine Fachperson anrufen und mir helfen lassen.
Jetzt stapeln Sie aber tief ...
Ich will meinen Beitrag nicht schmälern, höchstens relativieren. Die heutige Gesellschaft ist es sich gewohnt, kreative Menschen zu bewundern, oft nur, weil sie im Scheinwerferlicht stehen. Stattdessen sollten wir vermehrt all jene beachten, die – in Anführungszeichen – eine normale Arbeit leisten. Denn letztlich können wir auch dank diesen Menschen unsere gute und hohe Lebensqualität geniessen.
Am 27. Februar treten Sie in Scuol im Gemeindesaal solo auf. Was hat Sie nach 23 Jahren wieder gereizt, alleine auf der Bühne zu stehen?
Ich liebe dieses Freiheit, alleine auf die Bühne zu gehen, alle Möglichkeiten zu haben, genau die Lieder zu spielen, die ich im Moment für gut und angebracht halte. Auch geniesse ich es, mich vor dem Konzert nicht mit Mitmusikern besprechen zu müssen. Gleichermassen habe ich aber viele Jahre lang das Musizieren mit der Band genossen, mit all den unterschiedlichen Interpretinnen und Interpreten. Ich habe Konzerte im Duo gespielt wie auch mit Jazz-Bigbands, mit Sinfonieorchestern, Streichquartetten oder meinem Palermo Acoustic Quintet. Ich habe in allen möglichen Varianten gespielt, mit Konstantin Wecker, Werner Schmidbauer und Martin Kälberer oder auch mit Linard Bardill, mit dem ich jahrelang verschiedene Projekte realisiert habe. Jetzt habe ich einfach Lust, meine eigene Geschichte Revue passieren zu lassen. Ich weiss aber auch, dass viele Menschen genau darauf gewartet haben.
Das deutet auf einen erfolgreichen Tourstart hin, oder?
Ja, absolut, und einen viel erfolgreicheren, als ich es mir je hätte erträumen können. Bis zur Pandemie hatte ich schon über zehn erfolgreiche Jahre erlebt, das Publikum hat mich gefeiert und ich rechnete stark mit einem bescheidenen Echo auf das aktuelle Soloprogramm. Aber ich habe mich getäuscht. Das neue Programm hat alles Bisherige noch übertroffen. Das freut mich sehr.
Erinnert Sie das Soloprojekt an Ihre Anfangszeiten, als Sie 1985 von Palermo wegzogen, als Strassenmusiker durch Europa tingelten und in Luzern Linard Bardill kennenlernten?
Nein, dass ist eine ganz andere Geschichte. Ich erinnere ich mich daran, weil ich im Programm darüber spreche. Immerhin war das der Anfang meiner Karriere, die mich ganz zufällig in die Schweiz geführt und natürlich mein Leben verändert und geprägt hat. Aber jetzt bin ich ein alter und erfahrener Mann (lacht), der auf diese Zeit zurückschaut. Damals war ja alles noch zu erleben, gewissermassen zu erobern und zu entdecken. Der Horizont war riesig, wie übrigens auch die Fragezeichen, was noch kommen und passieren würde, ob es jemals klappen würde mit der Karriere oder auch, ob ich davon leben und meine Familie ernähren könnte oder ob ich für mein Leben einen Plan B bräuchte.
Das neue Album «Nell’attimo» ist ein stilles. Stimme, Gitarre, Piano und nur spärliche Instrumentierung. Weshalb?
Ich wollte diese Stimmung des Alleinseins auf der Bühne wieder erobern, auf dem Album wiedergeben und den Menschen, die es hören, weitergeben. Ich bin selbst von den bisher durchweg positiven Reaktionen des Publikums und auch der guten Kritik überrascht worden. Ich bekomme täglich solche Briefe, E-Mails oder Medienberichte. Das alles zeigt mir, wie wichtig es war, endlich mal wieder Lieder zu komponieren und zu singen, die auf das Wesentliche heruntergebrochen sind, die sehr intim sind und gewisse Stimmungen aufkommen lassen. Ich glaube, dass dies gerade in der heutigen Zeit sehr wichtig ist, die extrem voll ist von Nachrichten und Bildern und wir alle durch soziale Medien und anderes stark beeinflusst und abgelenkt sind. Die Idee, sich im kleinen Kreis zu sehen und über die wichtigen Dinge des Lebens zu reflektieren, ist meiner Ansicht nach ein Bedürfnis, welches gerade für die Generationen ab 40 wieder wichtiger geworden ist. So zumindest interpretiere ich das unglaubliche Interesse an meinem neuen Soloprogramm.
Nell’attimo – ist das Ihr neues Lebensmotto oder woher kommt die Fokussierung auf den Augenblick?
Vielleicht hat das mit dem Älterwerden zu tun, aber ebenso mit dem Jungsein. Als Strassenmusiker habe ich jeden Augenblick bewusst erlebt und genossen. Zu wissen, dass ich im Hier und Jetzt bin und Menschen unterhalte, die ganz zufällig vor mir stehen, kurz innehalten oder auch an mir vorbeigehen. Im Alter verblasst natürlich die scheinbare Unendlichkeit des Lebens, dafür bekommt man das Gefühl, den Tag möglichst bewusst leben und geniessen zu wollen, weil wir ja nicht wissen, was morgen passiert. Diese klare Wahrheit, die uns eigentlich in allen Lebensphasen bewusst sein sollte, wird aber wohl erst im Herbst des Lebens so richtig wichtig. Ich lebe mein Leben deshalb sehr intensiv und bin sehr auf das Heute bedacht. Ich versuche, intensiv Gespräche und Beziehungen zu leben, weil ich weiss, dass das Einzige, das wir haben, das Hier und Jetzt ist.
Hat sich diese Lebenseinstellung auch auf Ihre Poesie ausgewirkt?
Durchaus, wenn vielleicht auch eher unbewusst. Meine Absicht war ja, die Stimmung des Augenblicks musikalisch und auch textlich zu umschreiben. In diesem Sinne habe ich auch versucht, die Lieder so – nell’attimo – zu schreiben und damit eine passende Atmosphäre zu schaffen.
Sie sagten in unserem letzten Gespräch 2017 in Pontresina, die Menschen müssten vermehrt zusammenstehen, sich wehren und Verantwortung übernehmen. Die globalen Ereignisse der letzten Jahre, Krisen, Konflikte, Polarisierung zeigen, es war wohl nur ein frommer Wunsch?
Nein, denn was in der Welt gerade wieder passiert, ist für mich die Bestätigung, dass die damalige Aussage richtig und nötig war. Heute mehr denn je. Es sind die Menschen, die sich vor allem hier in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg für die Demokratie entschieden haben und die grossmehrheitlich den sozialen Frieden geniessen wollen. Es ist aber auch die Bestätigung dafür, dass die Bevölkerung weiter dezidiert auf dieser Linie bleiben will. Die Politik aber muss Ausdruck von diesem Willen sein, in der Welt eine Friedenspolitik zu verfolgen und zu bewahren. Natürlich sind wir alle für den Frieden, aber wenn ein Staat einen anderen angreift, so muss man sich verteidigen können. Ich weiss, dass ist einfach gesagt, aber ich habe das Gefühl, dass man gerade auch auf diplomatischer Ebene noch viel zu wenig getan hat, um Frieden zu erreichen. Dafür wird viel zu viel auf Waffen gesetzt, um Konflikte kriegerisch zu lösen. Es gibt diesbezüglich einfach viel zu viele wirtschaftliche und geopolitische Interessen seitens der Grossmächte. Tragisch ist, dass am Schluss die Menschen einen viel zu hohen Preis dafür bezahlen. Aber es wird so weitergehen und immer wieder werden die gleichen Fehler passieren. Die Gesellschaft müsste sich dessen bewusster sein und die Politik auf einen Friedenskurs zwingen, dann hätten wir vielleicht eine bessere Welt.
Sie sind seit 2012 schweizerisch-italienischer Doppelbürger und bezeichnen sich gerne als Reisender zwischen Nord und Süd. Sie besuchten vor Jahren aber auch Kuba oder die Ukraine. Welche Gedanken beschäftigen Sie diesbezüglich?
Auf Italienisch sagt man «Siamo carne di macello» – Kanonenfutter – die Völker werden wie Marionetten manipuliert und die sogenannt Mächtigen der Welt haben für sich und die Länder, die sie pseudoregieren, andere Pläne. Ein Vladimir Putin hat keinerlei Bedenken, wenn für seine Ideen Hunderttausende oder Millionen Landsleute sterben. Genau gleich funktioniert es aber auch in anderen Weltmächten. Ende der Geschichte. Es ist vieles in Bewegung und gerade deshalb sollten die Menschen politisch aktiver werden, inklusive wir selbst, immerhin ist die Schweiz ein grosser Waffenproduzent. Waffen werden verkauft und irgendwo benutzt, um Menschen zu töten. Das weiss man. Es ist heuchlerisch.
Ob 2014 in Scuol oder 2017, bei Ihrem letzten Engadiner Konzert in Pontresina, jeweils mit Ihrem Palermo Acoustic Quintett, sprachen Sie von längeren kreativen Pausen. Stattdessen haben Sie immer wieder neue Leute kennengelernt, haben neue Projekte angerissen, sind im Zürcher Hallenstadion, in der Arena di Verona und auch an Ihrem Sehnsuchtsort, dem Teatro Massimo in Ihrer Heimatstadt Palermo aufgetreten. Sind Sie ein nimmersatter Workaholic?
Nein, denn vergessen Sie nicht, wir haben wegen der Pandemie zwei Jahre lang keine Konzerte geben können. Die Pandemie hat uns 700 Tage Stille gebracht.
Dann war die Pandemie Pause genug?
Natürlich, denn wer kann es sich leisten, zwei Jahre nicht zu arbeiten? Es ist, wie wenn ein Koch oder eine Lehrerin zwei Jahre lang nicht arbeiten können. Trotzdem, ich war in dieser Zeit zu Hause, habe fantastische Dinge gemacht und mir war keine Sekunde langweilig. Ich habe Lieder komponiert, meinen Roman geschrieben, eine wunderbare Zeit, verbunden mit viel Arbeit. Noch einmal, ich bin privilegiert und ich bewundere die Leute, die um halb sechs in der Früh aufstehen, mit dem Tram zur Arbeit fahren und erst am Abend wieder noch Hause zurückkommen oder die Bäcker, die zu Unzeiten dafür sorgen, dass wir schon am Morgen frisches Brot haben. Ich bin kein Workaholic, aber ich bin gerne aktiv und liefere denen, die es lieben und schätzen Lesestoff und Musik. Mehr ist da nicht.
Sie suchen oft die Zusammenarbeit mit anderen Musikerinnen und Musikern. Genügen Sie sich selbst nicht?
Doch, natürlich. Aber das Leben ist nun mal die Kunst der Begegnung. Durch das Wesen der anderen werden wir reicher, bewusster, erfahrener und auch neugieriger. Alleine schaffe ich es nur bis zu einem gewissen Punkt, mich selbst zu fördern. Deshalb brauche ich die Entdeckung, was im Gepäck des anderen liegt. Es ist ein grosser Reichtum, andere Künstler zu treffen und andere Künste kennenzulernen. Nur so komme ich zu Ideen, zu denen ich sonst nie Zugang hätte. Es ist mir sehr wichtig, meinen Durst immer wieder bei anderen Quellen zu löschen.
Apropos. Sie haben mal bei einem Konzert die Geschichte erzählt, wie Sie den deutschen Musiker Konstantin Wecker ganz zufällig bei einem Spaziergang kennengelernt haben. Heuer treten Sie im Juli zwei Mal mit ihm gemeinsam in der Schweiz auf. Auf was dürfen sich die Fans freuen?
Konstantin Wecker war eine sehr wichtige Begegnung für mich. Sehr viel wichtiger natürlich als umgekehrt ich für ihn. Aber er geht langsam auf die 80 zu. Es könnte also durchaus das letzte Mal sein, dass wir zusammen auf der Bühne stehen. Ich bin sehr froh, dass wir diese beiden gemeinsamen Konzerte haben. Das sind solche Konzerte, die man im Augenblick geniessen sollte.
Zehn Tage zuvor werden Sie, zusammen mit dem Palermo Acoustic Quintet, erstmals mit dem Frontmann der deutschen Kultband BAP, mit Wolfgang Niedecken und seinem Trio auf der Bühne stehen. Wie kam es zu dieser Premiere?
Auch diese Begegnung war rein zufällig. Wir haben uns vor ein paar Jahren in den Ferien auf Kreta kennengelernt (lacht). Jeder wusste, wer der andere ist, und dann ist es einfach in Kontakt zu kommen. Wolfgang kam kürzlich nach Düsseldorf an mein Konzert und wir haben beide das Wiedersehen gefeiert. Wir freuen uns jetzt schon auf dieses gemeinsame Konzert, wo jeder seinen Part spielen wird und wir zum Schluss eine halbe Stunde zusammen spielen werden. Ich bin selber gespannt darauf.
Hallenstadion oder Arena di Verona mit Tausenden Zuschauern und jetzt wieder, passend zum Soloprogramm, der Scuoler Gemeindesaal mit ein paar Hundert Sitzplätzen. Wie gehen Sie mit solcherlei unterschiedlichen Augenblicken um?
Ich bin in der Kleinkunstszene aufgewachsen. Es ist mein Zuhause und sein Zuhause vergisst man nicht. Und auch wenn ich in grossen Hallen oder Theatern spiele, ich vergesse keinen Augenblick lang, woher ich komme. In Scuol habe ich wunderbare Augenblicke mit Freunden aus dem Engadin erlebt. Das bleibt mir im Herzen und deshalb kehre ich umso lieber an solche Orte zurück. Wir spielen aktuell zwölf Konzerte in der Schweiz, meistens in kleinen Sälen, manchmal auch nur vor einhundert Personen. Ich freue mich sehr darauf und hoffe, das Publikum freut sich auch und feiert mit mir mit.
Allora, tutto nell’attimo?
Nell’attimo, ganz genau.
Das Interview wurde telefonisch geführt.
Jon Duschletta
Jon Duschletta
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