Es ist heiss, die Sonne brennt, Hunger und Durst machen sich breit bei Mensch und Tier, die da gerade, von Zernez kommend, kurz vor Brail aus dem lichten Wald heraustreten und dem Feldweg durch die teils frisch gemähten Wiesen folgen. Allenthalben erklingen Jauchzer, vermischt mit Stimmengewirr und dem Getrampel unzähliger Hufe.
Vorneweg marschieren zwei braungebrannte Männer in grauen Hosen, weissen Kutten und mit blumendekorierten Sonnenhüten. Daniel Flühler und Reto Niggli, der einzige Bündner im Säumertross. Niggli ist nicht ganz unschuldig daran, dass die illustre Gruppe aus gut 25 Säumerinnen und Säumern, fast ebenso vielen Mitwanderern und insgesamt 17 Tieren den historischen Säumerweg entlang der Via Valtellina begeht. Der Prättigauer war es nämlich, der vor sechs Jahren Daniel Flühler auf diese drei Länder und drei Sprachregionen umfassende Route aufmerksam machte.
Flühler, Wandercoach, Unternehmensberater und Inhaber einer Werbefirma aus dem obwaldischen Giswil, ist passionierter Säumer und organisiert seit 20 Jahren die Sbrinz-Route, welche von Luzern über historische Säumerpfade nach Domodossola führt. Zum sechsten Mal hat er heuer auch die 135 Kilometer lange Säumerwanderung über die Via Valtellina von Gargellen über Klosters, Davos, den Scalettapass nach Susauna, dann weiter durchs Oberengadin und den Berninapass nach Poschiavo und Tirano organisiert geleitet und finanziert. Einziger Unterschied: Weil auf dem Scalettapass noch zu viel Schnee lag und der Weg für Mensch und Tier deshalb zu gefährlich war, kam heuer eine Alternativroute über Zernez und Zuoz zum Zuge.
Geschichte der Vorfahren nachleben
«Die Via Valtellina ist ein historischer Handelsweg, so wie es die Sbrinz-Route oder der Stockalperweg ist, der von Brig über den Simplonpass nach Gondo führt», sagt Daniel Flühler während der Mittagsrast in Brail. «Wir leben mit diesen Reisen die Geschichte unserer Vorfahren nach, sehen, wie sie gelebt haben und erleben, wo und wie sich sich bewegten.»
Nach den Strapazen erwartet den Säumertrupp am Donnerstagabend auf dem Vorplatz der Basilika Madonna di Tirano zum Abschluss ein Empfang der örtlichen Behörden mit Apéro und anschliessender Einladung zum verdienten Säumeressen ins Triacca-Weingut La Gatta in Bianzone.
Vorerst aber kämpft Säumer Daniel Siegenthaler aus Drance, einem Walliser Dorf am Grossen Sankt Bernhard, kurz vor Brail mit seinem widerspenstigen Maultier «Kaiwa», einem zehnjährigen Koloss von über einer halben Tonne Gewicht, der immer wieder ein paar Grasbüschel ausreist, frisst und am Zügel reisst. Siegenthaler ist solche Reisen gewohnt, hat, wenn auch ohne Tier, schon Alpentraversierungen zu Fuss absolviert, war, entweder mit Pferd oder Maultier auf der Via Compostela unterwegs und jetzt zum zweiten Mal auch auf der Via Valtellina. Wenn man mit Tieren unterwegs sei, so verringere sich etwas das Tempo und die Reichweite, «denn die Vorbereitung und Versorgung der Tiere braucht morgens und abends jeweils rund eineinhalb Stunden Zeit.»
«Es müssen alle zusammenspannen»
In Brail bei der Kirche San Tumasch angekommen, werden die Teilnehmer der Säumerwanderung mit währschaften Älplermakkaronen versorgt. Im Schatten der Kirchenmauer hat sich Annemarie Gerber ins Gras gesetzt und macht, frisch verpflegt, Pause. Sie stammt aus Ringoldswil am Thunersee, und auch sie ist heuer zum zweiten Mal mit auf der Säumerreise, zusammen mit ihrer Tochter und Kolleginnen. Noch vor dem Essen hatten sie sich gemeinsam um ihren kleinen vierjährigen Esel «Marino» und seinen lädierten Huf gekümmert. «Ich habe ihm etwas Gepäck wegnehmen und auf andere Teilnehmer verteilen können. Wir müssen hier alle zusammenspannen, sonst geht es nicht.» Wie sinnvoll die Routenänderung war, haben sie und ihre Mitstreiter schon am ersten Tag erlebt: «Beim Gang über das Schlappinerjoch waren die Wege ausgespült und gefährlich. Und am zweiten Tag mussten wir zwei Bäche durchqueren und haben alle unsere Schuhe gefüllt. Zum Glück haben wir immer ein Paar Ersatzschuhe mit dabei.»
Sie erfreue sich an der schönen Landschaft, sei froh, abends im Trockenen schlafen zu können, beispielsweise auf dem Dürrboden im Strohlager, und geniesse auch das Gesellige, «denn lustig sein und feiern, das können die Säumer», so Gerber. «Auf einer solchen Reise bekommt man eine Ahnung davon, was unsere Vorfahren geleistet haben.»
Autor und Fotos: Jon Duschletta
Autor und Fotos: Jon Duschletta
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