Alte Bäume haben eine besondere Anziehungskraft, nicht nur auf Forschende. So auch die uralten Arven im God da Tamangur. Markus Stoffel erklärte dem zahlreich erschienenen Publikum, wie es heute gelingt, die Klimaentwicklung vergangener Jahrhunderte oder gar Jahrtausende zu rekonstruieren. Die ältesten Bäume der Welt stehen auf dem amerikanischen Kontinent und sind über 5000 Jahre alt. Stoffel zeigte eindrückliche Bilder seiner Expedition in den Süden Argentiniens, wo patagonische Zypressen ein solch biblisches Alter erreichen können.
Dendrochronologie neu erfunden
Aufgrund grosser saisonaler Klimaunterschiede durchlaufen Bäume in unseren Breiten jedes Jahr eine Wachstumsphase im Sommer – je nach Höhenlage von ca. Mai bis September – und eine Ruhephase im Winter. An der oberen Waldgrenze wird das Baumwachstum von der Temperatur kontrolliert. Je nach Temperaturverhältnissen werden mehr oder weniger Zellen und damit ein mehr oder weniger breiter Jahrring ausgebildet. Zudem sind die Zellwände je nach Witterung unterschiedlich dick.
Dendrochronologen nutzen diese Tatsache, um durch die Vermessung der Jahrringe zahlreicher Bäume eines gleichen Standorts charakteristische Wachstumsmuster abzuleiten. Diese Muster können dann für die jahrgenaue Datierung von Bauholz beigezogen werden. Stoffel erläuterte anhand der Dachkonstruktion von Schloss Planta-Wildenberg in Zernez, dass dessen Balken auf das Jahr 1622 datiert werden konnten. Das war die Zeit, als der Schlossherr Rudolf von Planta das Schloss nach den Zerstörungen während den Bündner Wirren wieder aufbauen liess.
Es ist aber auch möglich, aus den Jahrringen vergangene Klimabedingungen abzuleiten und so etwa vergangene Sommertemperaturen zu rekonstruieren. Im Gegensatz zu den Föhren und Lärchen hat sich die Wissenschaft bei den Arven bislang aber kräftig die Zähne ausgebissen: Bei den Arven konnten Unterschiede in der Jahrringbreite und -dichte bisher nur ungenügend ausgemacht und damit das vergangene Klima kaum zuverlässig rekonstruiert werden.
Innovation auf Zellebene
Dank neuer Ansätze und einer Portion künstlicher Intelligenz gelingt es seit wenigen Jahren auch bei den Arven, ein starkes Klimasignal zu extrahieren. Der Teufel steckt wie so oft auch hier im Detail oder im Fall der Tamangur-Arven in der Zellwandstärke. Dank der Vermessung von vielen Millionen Zellwänden und digitaler Bildverarbeitung lassen sich heute mikroskopisch kleine Unterschiede in der Zellwanddicke feststellen, die auf Unterschiede bei der Sommertemperatur zurückzuführen sind. Das «Klimasignal» in diesen riesigen, knorrigen Arvenstämmen aus dem God da Tamangur ist jedoch so klein, dass es mit blossem Auge gar nicht sichtbar ist. Das heisst, die durchschnittliche Zellwandstärke verändert sich von Jahr zu Jahr nur in der Grössenordnung von 0,001 Millimetern. Trotzdem entsprechen diese mikroskopisch kleinen Unterschiede, die in einem gewissen Jahr gemessen werden, recht genau den mittleren Temperaturen von April bis September, wie sie die Klimastation Buffalora am Ofenpass aufzeichnet (Abbildung).
Weil dieses Verhältnis zwischen den in einem Jahrring gemessenen Zellwandstärken sehr gut mit den seit 1917 bestehenden Temperaturreihen von Buffalora korrelieren, lässt sich dasselbe Verhältnis zwischen Zellwandstärke und Sommertemperatur auch auf frühere Zeiten übertragen. Dank der alten Bäume im God da Tamangur kennen wir heute die Temperaturverhältnisse in der Umgebung von S-charl seit mindestens 400 Jahren. Die Forschenden stellen fest, dass es noch nie so warm war wie heute. Klar erkennbar ist auch, dass Anfang des 19. Jahrhunderts und nach dem Vulkanausbruch des Tambora (Indonesien) im April 1815 mehrere Sommer extrem kalt waren. Diese Abkühlung brachte in weiten Teilen Graubündens auch im Sommer Schnee und Lawinen bis in tiefe Lagen, verbunden mit Missernten und Hunger. Im Arvenwald von Tamangur starben wegen der Kälte zahlreiche ausgewachsene Arven ab – viele von ihnen stehen noch heute aufrecht im Wald, so als ob sie erst unlängst abgestorben wären.
Jahrhunderte und Jahrtausende
Da die Holzzellen der Arven nicht nur Informationen zur Sommertemperatur, sondern auch zum Niederschlag im Winter speichern, lassen sich sowohl der winterliche Massenzuwachs als auch die sommerliche Schmelze des Silvretta-Gletschers abbilden und so sein Vorstoss während der Kleinen Eiszeit (1350–1850) und sein Zerfall in den letzten Jahrzehnten rekonstruieren. Noch extremer ist Stoffels Beispiel der Forschung auf der Jamal-Halbinsel in Sibirien. Dort ist es sogar gelungen, das Klima der letzten 7638 Jahre zu rekonstruieren. Dies war möglich, weil uralte Bäume im Permafrost eingefroren blieben und heute für die dendrochronologischen Analysen genutzt werden können. Die Resultate zeigen, dass die Temperatur in diesem Gebiet über die Jahrtausende um 0,08 Grad pro Jahrtausend abgenommen hat. Seit der industriellen Revolution ab 1850 hingegen hat die Temperatur um 3,09 Grad zugenommen und ist mittlerweile so hoch wie noch nie in den letzten 7638 Jahren. Die Resultate zeigen gemäss Stoffel auf eindrückliche Weise, welch enormen Einfluss der Mensch auf die Klimaentwicklung unserer Erde hat.
Trotz neuer Möglichkeiten treibt die Forschenden die Frage des Alters der Tamangur-Arven weiterhin um. Da die alten Bäume im Naturwaldreservat im Kern morsch sind, kann deren Alter nur geschätzt werden. Mit rund 800 Jahren sind die Bäume sicher sehr alt und gehören zu den ältesten im Kanton. Ob auch die älteste Arve der Alpen im Tamangur-Wald steht? Mit einem Augenzwinkern meinte Stoffel, dass sich das Unterengadin mit dem God da Tamangur und das Oberengadin mit den Arven auf Muottas da Schlarigna ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern, doch dass das Unterengadin vermutlich die Nase vorn habe.
Hans Lozza und Markus Stoffel, SNP
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