Dort, wo Renata Giovanoli-Semadeni steht, ist eigentlich ein beliebter Aussichtspunkt. Doch an diesem Oktobernachmittag hängen die Wolken so tief, dass keine Bergspitze zu sehen ist. Also begnügt sich die Dorfführerin damit, die Berge auf einer Tafel zu zeigen: die vier Bergspitzen der Sciora-Gruppe, den Pizzo Badile, den Pizzo Cengalo und so weiter. «Zu uns kommen die Gäste, um die Berge zu besteigen, zum Wandern, wegen der Künstler Varlin, Giacometti und Segantini, und um Ruhe zu finden. Auch ich geniesse die Ruhe im Tal», sagt Renata Giovanoli.

Sie wird von rund 25 Personen umringt, welche im Rahmen des Kasta­nienfestivals an einer Dorfführung in Soglio inklusive Degustation von Kastanienprodukten teilnehmen. Es nieselt leicht und es herrschen herbstlich-kühle Temperaturen. Dennoch lauschen die Anwesenden interessiert den Ausführungen der Bergellerin.

Wie in einer anderen Welt 
Renata Giovanoli lebt in Vicosoprano, bietet aber bereits seit 20 Jahren Dorfführungen im Bergell an. «Wer einen Giovanoli heiratet, ist automatisch mit Soglio verbunden, denn alle Giovanolis stammen aus Soglio», sagt sie lachend. «Soi» nennt sie das Dorf auf Bargaiot.

Soglio ist der touristischste Ort im Tal. Auf 1100 Metern gelegen, ist das Bergdorf meistens von der Sonne verwöhnt. Hier, in der sanften Kulturlandschaft, umgeben von gut erhaltenen, dicht aneinander gebauten alten Häusern und mit Blick auf das Hochgebirge, fühlen sich die Gäste wie in einer anderen Welt. «Als wäre man ins Mittelalter zurückgereist», meint eine deutsche Touristin schwärmerisch, während die Gruppe durch die engen, pittoresk wirkenden Gassen schlendert.

Noch ist Soglio lebendig 
Rund 90 Personen leben in Soglio, darunter 25 Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre. Ein paar Familien gibt es also noch im Dorf, aber auch immer mehr Zweitwohnungsbesitzer, wie Renata Giovanoli erzählt. Häuser und Ställe werden von Auswärtigen gekauft und ausgebaut. «Und das treibt die Kosten für Eigenheime in die Höhe.» Die Schule, wo einst alle Kinder gemeinsam unterrichtet wurden, gibt es nicht mehr. Die Kinder besuchen die Schule in Vicosoprano, ab der Oberstufe in Stampa. Doch es hat noch den Dorfladen, drei Hotel-Restaurants, ein B&B, den Souvenirladen und den Laden mit Naturkosmetik «Soglio».

Die Zeichen des Wandels 
«Wir sprechen unter uns Bergeller Dialekt, Bargaiot, aber leider beginnen die Kinder bereits im Kindergarten miteinander Italienisch zu sprechen und so geht der Dialekt zunehmend verloren», sagt die Dorfführerin. Italienisch sei Amtssprache, Deutsch erste Fremdsprache, Englisch zweite Fremdsprache. Mit 16 Jahren müssen die Jungen das Tal verlassen, um eine Berufslehre zu machen oder eine weiterführende Schule zu besuchen. 

Alle Bergeller Dörfer waren früher Bauerndörfer. Überall gibt es noch kleine, nicht mehr genutzte Ställe. Früher gab es viele Bauern mit wenig Tieren, heute gibt es weniger Bauern mit mehr Tieren und grossen Ställen. «Die Tiere sind nicht mehr im Dorf, man riecht das Heu und den Mist nicht mehr – Biomist kann auch gut riechen», sagt Renata Giovanoli, und die Gäste schmunzeln. 

Vorbildliche Baupolitik 
Für einen kurzen Exkurs zum Thema Baukunst führt Renata Giovanoli die Gruppe an den unteren Dorfrand. Von hier aus hat man einen guten Blick auf die Häuser. Zu sehen sind auch Häuser im Walserstil. Soglio hatte zwei Alpen auf der anderen Seite des Berges, und so kamen zum Teil Ehen unter Bergellerinnen und Walser oder umgekehrt zustande. Bei den Steinhäusern ist der Einfluss der italienischen Bauarbeiter zu sehen. Auch die Dächer mit Steinplatten zeugen davon.

Wie geschickt in Soglio Tradition und Moderne verbunden werden, zeigt die Dorfführerin anhand einer Tiefgarage mit Platz für zwölf Fahrzeugen, die unter einen grossen Obstgarten führt und kaum zu sehen ist. 2015 hat das Bergell den Wakkerpreis erhalten, als Anerkennung für einen umsichtigen Umgang mit der historischen Bausubstanz.

Kastanien mit Schlagrahm 
Bevor die Gruppe zur Dorfkirche schlendert, schildert Renata Giovanoli noch kurz, wie die Kastanien in Tal gesammelt und verarbeitet werden, die grossen und schönen als Esskastanie, die kleineren als Dörrkastanie und die unverkäuflichen Kastanien werden den Tieren verfüttert. Sie erklärt, wie die Kastanien in den Cascine, den kleinen Steinhütten, noch heute auf traditionelle Weise gedörrt werden. Sie schildert die mystische Stimmung im November in den Kastanienwäldern mit den rauchenden Cascine. Und sie erklärt, wie die Kastanien im Tal gekocht werden: Im Salzwasser mit einem Stück Speck und Lorbeerblättern. «Wir essen sie mit Speck und Salat oder mit Speck und Schlagrahm – wie Schellenursli».

Reformiert wegen der Schikanen?
Die Gruppe der Dorfführung ist bei der Kirche San Lorenzo angekommen. Wärme und Trockenheit empfängt sie im Inneren. Sie war einst eine katholische Kirche, das Bergell wurde aber früh von italienischen Reformatoren reformiert. Damals gehörte das Bergell zum Gebiet des Freistaats der Drei Bünde und somit zum Gottesbund des Bischofs von Chur. Dass die Bergeller sich so früh von der Reformation überzeugen liessen – gewisse Dörfer schon 1530 – hat vor allem einen finanziellen Grund. 

Im runden Turm von Vicosoprano lebte ein Beauftragter des Bischofs, der eine Art Zoll auf die Waren kassierte, welche nach Süden und nach Norden transportiert wurden. Das Geld behielt der Bischof für sich. «Als die Reformatoren versprachen, diese Abgaben an den Bischof zu eliminieren, ist es sehr schnell gegangen», erzählt die Dorfführerin. «Das glaube ich», entfährt es einem Gast laut.

Die Macht der von Salis
Was in der Kirche von Soglio speziell ist, sind die hohen Sitze mit Armlehnen an der linken Seite des Kirchenschiffs. Diese waren der mächtigen Familie von Salis vorbehalten. Zu Reichtum waren die von Salis unter anderem durch Söldnerdienste, Handel und Ländereien im Veltlin gekommen. Von ihrer Vorherrschaft im Tal zeugen in Soglio die Palazzi. 

Das heutige Hotel Palazzo Salis wurde 1630 vom Ritter Battista von Salis gebaut und war die sommerliche Residenz für seine Familie. Die beiden weiteren Palazzi wurden später von seinen Nachkommen gebaut. 

Geköpfte Häupter und Waschfrauen
Der Platz mit den Palazzi ist dann auch die nächste Station auf der Dorfführung. Hier erzählt Renata Giovanoli die Legende der Steinköpfe an der Fassade des ehemaligen Stalles, ein Pferdekopf und sieben Männerköpfe. So soll einst ein Herr von Salis mit viel Geld hoch zu Ross über den Septimerpass nach Hause geritten sein. Sieben Räuber wollten ihm das Geld rauben, doch der Herr wurde von einer Magd davor gewarnt. Die Räuber wurden gefasst, geköpft und ihre Köpfe wurden an der Stallwand befestigt, mit je einem Ring im Mund, um daran die Pferde anzubinden.

Mit einem Besuch beim überdachten ehemaligen Waschbrunnen und bei der einstigen Viehtränke neigt sich die Dorfführung dem Ende zu. Renata Giovanoli führt die Gruppe noch zu jenem Aussichtspunkt, von welchem aus Giovanni Segantini das erste Bild des Alpen Tryptichons gemalt hatte. Dann wird es Zeit für die Verkostung von Kasta­nienprodukten in der Stüa Granda. 

Auch Renata Giovanoli gesellt sich noch eine Weile zur Gruppe und antwortet auf individuelle Fragen. «Bei den Führungen geht es mir darum, ein authentisches Bergell zu zeigen: das einfache Leben, die Naturverbun­denheit, und die Ruhe», sagt sie. Und diese finden auch die Gäste an diesem wunderbaren, verregneten Herbsttag in und um Soglio.