Im August 2021 hielt die Geologin Anna Rauch aus Sent in La Punt Chamues-ch einen Vortrag über die geologischen Besonderheiten des «Engadiner Fensters». Am Rande dieser Veranstaltung diskutierte sie mit dem Geologieprofessor und Tektonikspezialisten Stefan Martin Schmid auch die sogenannte «Engadiner Linie» und den Umstand, dass der Inn kurz vor Zernez von seiner bis dahin relativ geraden Fliessrichtung plötzlich nach links abbiegt und einen weiten Bogen um Zernez macht.

Laien werden sagen, kein Wunder, angesichts des massiven Munt Baselgia, der sich bei Zernez dem Inn quer in den Weg stellt und mit seinem höchsten Punkt, dem Spi da Baselgia auf 2945 Metern über Meer und dem dahinterliegenden Seenplateau Macun, eine Art natürliche Barriere darstellt. Allerdings sah diese Gegend vor x Millionen Jahren noch gänzlich anders aus.

Das wissen Geologinnen und Geologen wie beispielsweise Rudolf Trümpy selig. Er hat 1997 zusammen mit Stefan Martin Schmid, Paolo Conti und Nikolaus Froitzheim die wissenschaftliche Arbeit «Erläuterungen zur Geologischen Karte 1:50 000 des Schweizerischen Nationalparks» veröffentlicht. In dieser gehen die Autoren auf 43 Seiten sehr detailliert auf die äusserst komplexe geologische Situation im Gebiet des heutigen Nationalparks ein. 

Aus geologischer Sicht müsste sich der Inn damals, vor Millionen von Jahren mit seiner Lage von bis zu zwei Kilometer über dem heutigen Talboden, eigentlich entlang der sogenannten «Engadiner Linie» in Richtung Scuol weitergeschlängelt haben. Aus einer Laune der Natur heraus tat er aber genau das nicht, oder wurde, was ebenfalls angenommen wird, von der Route der Engadiner Linie abgedrängt. 

Rückblick auf einen Zeitraum von 100 Millionen Jahren
Das Inntal folgt gemäss Trümpy und seinen Mitautoren zwischen Maloja und Zernez und dann wieder zwischen Ardez und Pfunds im Tirol einer tektonischen Störungsfläche, eben dieser «Engadiner Linie». Diese dürfte sich vor rund 20 bis 30 Millionen Jahren gebildet haben, im späten Oligozän respektive im frühen Miozän. Noch älter schätzen Geologinnen und Geologen die Entstehung der Quertäler des heutigen Ofen- oder Reschenpasses ein.

Um dies besser verstehen zu können, muss rund 100 Millionen Jahren zurückgeblendet werden: In die Mitte der Kreidezeit, wo die europäische und die apulische Erdplatte begonnen haben, sich aufeinander zuzubewegen. Dabei wurde das zwischen den Platten befindliche Gebiet aufgefaltet und übereinandergeschoben. Durch weitere geologische Verschiebungen im nachfolgenden Zeitalter des Tertiär, vor rund 70 bis 90 Millionen Jahren, hat sich auch die hiesige Alpenregion gebildet respektive verändert. Unter anderem hat die Hebung des Deckenstapels vor rund 27 Millionen Jahren zum Abbruch der «Engadiner Linie» und in der Folge durch Erosion auch zur Entstehung des «Engadiner Fensters» mit all seinen hochwertigen Mineralquellen in Scuol und Umgebung geführt (siehe Beitrag zum Tektonikreferat von Anna Rauch in der EP/PL vom 10. August 2021).

Inn-Umleitung ist «neueren» Datums
Damit alleine ist die Anfangsfrage aber noch nicht beantwortet. Der Inn – und mit ihm der heutige Talboden des Engadins – folgt der «Engadiner Linie» nur bis kurz vor Zernez, die tektonische Störungszone selbst aber führt von dort weiterhin ziemlich geradeaus rechts an Zernez und dem Munt Baselgia vorbei, durch das Gebiet des heutigen Seitentals Val Laschadura und der Fuorcla Stragliavita bis ins Gebiet der Gemeinde Scuol, wo der Inn und die «Engadiner Linie» wieder zusam­men­fin­den.

Was, wie erwähnt, durchaus auf eine Laune der Natur zurückzuführen sein liegen könnte. Mehr noch. Im Jahr 2013 veröffentlichten «Atlas des Schweizerischen Nationalparks» im Beitrag «Tektonik – Das bewegte und gestapelte Gebirge» fassen die Autoren Christian Schlüchter, Marcel Clausen, Fabiola Stadelmann und Eduard Kissling diese über Millionen Jahre andauernde Erdgeschichte kurz und prägnant zusammen. Sie gehen in ihren Ausführungen davon aus, dass es im Gebiet Zernez und Macun vor weniger als zehn Millionen Jahren junge Erdbewegungen gegeben haben muss, welche rasch erfolgten und ausgeprägt genug waren, «um den Inn von den leichter erodierbaren Gesteinen entlang der ‹Engadiner Linie› in das massigere, festere Gestein der Silvretta zu verdrängen.»

Wie in der Publikation von Rudolf Trümpy und seinem Autorenteam zu lesen ist, haben die sogenannten Abschiebungen an der «Engadiner Linie» deren Südostflügel horizontal um circa drei Kilometer verschoben und gleichzeitig um circa vier Kilometer abgesenkt. Davon ausgehend vermuten sie, dass vor diesen geologischen «Verstellungen» die Silvretta- und die Sesvenna-Decke entlang der «Engadiner Linie» auf dem gleichen tektonischen Niveau gelegen haben müssen. Und auch, dass die beiden Decken damals zu einer einheit­lichen, kristallinen Decke gehörten.

Letztlich räumen aber auch diese Spezialisten ein, dass sehr vieles an der äusserst komplexen, weil Millionen von Jahre zurückliegenden Erdgeschichte der Engadiner Tektonik noch unbekannt ist. Folglich ist der heutige Verlauf des Inn und des Unter­engadiner Talbodens wie auch die «Engadiner Linie» und erst recht das «Engadiner Fenster» einer oder mehreren Launen der Natur geschuldet.

Autor: Jon Duschletta

Quellen: Atlas des Schweizerischen Nationalparks, Haupt-Verlag 2013, Seiten 18/19 und Forschungsarbeit Nr 87/1997 «Erläuterungen zur Geologischen Karte 1:50 000 des Schweizerischen Nationalparks» von R. Trümpy, S. M. Schmid, P. Conti und N. Froitzheim. Beide Publikationen sind im Nationalpark-Shop in Zernez oder via Webshop erhältlich: www.nationalpark.ch. Mehr über den Geologie-Themenweg auf Motta Naluns unter: www.bergbahnen-scuol.ch, beispielsweise das Phänomen: Unterengadiner Fenster und Engadiner Linie, dargestellt am Panorama Piz Pisoc.