Die St. Moritzer Gemeindewahlen 2022 waren in mehrfacher Hinsicht speziell. Innerhalb der FDP kam es zu einem internen Konflikt: Zwei Mitglieder traten aus der Partei aus, kandidierten als Unabhängige und verdrängten die bisherigen beiden FDP-Gemeindevorstände. Zudem wurden die 17 Mitglieder des Gemeinderats in einer «stillen Wahl» bestätigt, da die Fraktionen genauso viele Kandidierende stellten, wie Sitze zu vergeben waren. Dies führte zu einer eigentlichen Zäsur: Die etablierten bürgerlichen Parteien FDP und Die Mitte verloren deutlich an Einfluss, während die Gruppierung Next Generation acht Sitze gewann. Aufgrund eines Rücktritts musste sie jedoch einen Sitz an Die Mitte abgeben, die, wie die FDP, nun vier Sitze hält. Die SVP stellt in der neuen Legislaturperiode zwei Mitglieder.

Seit dem 1. Januar 2023 tagen der St. Moritzer Gemeindevorstand (Exekutive) und der Gemeinderat (Legislative) in neuer Zusammensetzung. Welche Ziele hatten sich die Fraktionen für die Legislaturperiode 2023 bis 2026 gesetzt? Wie konnten sie sich bei zentralen Geschäften einbringen? Wie funktioniert die Zusammenarbeit im Gemeinderat, und welche wichtigen Themen stehen in der zweiten Hälfte der Legislatur an? Die EP/PL hat bei den Fraktionen nachgefragt.

«Keine Partei oder Gruppierung kann die Politik für St. Moritz allein bestimmen. Unser Ziel ist es, die Sachpolitik zu stärken», sagt Isabel Wenger, Fraktionsvorsitzende der Next Generation und derzeitige Präsidentin des Gemeinderats. Im Zentrum der politischen Arbeit sollen nicht Einzelinteressen oder Parteiprogramme stehen, sondern Anliegen, die der Bevölkerung und der Wirtschaft von St. Moritz zugutekommen. «Dieses Ziel haben der Gemeinderat und der Gemeindevorstand bisher erreicht. Die Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen ist von gegenseitigem Respekt geprägt», bilanziert Wenger.

Leandro A. Testa, Fraktionspräsident der FDP, beschreibt die Zusammenarbeit im Gemeinderat als «sachlich, zielorientiert und produktiv». Auch der Austausch mit dem Gemeindevorstand funktioniere im Grundsatz gut. Allerdings kritisiert Testa die teilweise unzureichende Vorbereitung wichtiger Geschäfte durch den Gemeindevorstand, etwa im Zusammenhang mit der Stiftung Gesundheitsversorgung Oberengadin oder dem Regionalflughafen. «Hier werden wir auf eine Professionalisierung der Prozesse und eine bessere Dokumentation drängen», betont er.

Auch Mitte-Fraktionschef Martin Binkert bemängelt eine teilweise späte oder unvollständige Information des Gemeindevorstands zu zentralen Themen. Er beschreibt das erste Jahr der neuen Legislatur als eine Phase der Orientierung mit mehreren politisch weniger erfahrenen Mitgliedern und einer dominanten Fraktion, was gelegentlich zu Misstrauen führte. «Im vergangenen Jahr hat sich die Diskussionskultur jedoch deutlich verbessert, und der gegenseitige Austausch ist nun von Respekt und Verständnis geprägt», schreibt Binkert.

Die beiden SVP-Gemeinderäte arbei­ten eng mit der FDP-Fraktion zusam­men. «Wir pflegen einen konti­nuier­lichen und konstruktiven Austausch zu allen relevanten Themen», sagt Gian-Andrea Conrad. Er bedauert jedoch, dass viele Schwerpunkte der laufenden Legislatur auf der Bewältigung von Altlasten in der Regionalpolitik liegen, insbesondere beim Spital und dem Flughafen. «Beim Spital ist es essenziell, einen stabilen und zukunftsfähigen Kurs einzuschlagen. Und der Regionalflughafen braucht einen klaren, tragfähigen Rahmen, damit er effizient funktioniert, ohne die Steuerzahler übermässig zu belasten», führt Conrad aus.

«Mehr unternehmerisches Denken und Handeln in allen Behörden, insbesondere bei den Aufgaben, die kommerzielle Zwecke, also keine traditionellen Gemeindeaufgaben verfolgen», nennt Testa eines der Legislaturziele der FDP-Gemeinderatsfraktion. Ein Beispiel sei die Entwicklung von Eigen­tümerstrategien für alle Beteiligungen, Baurechte, Konzessionen sowie Miet- und Pachtobjekte. Projekte sollen gemäss Testa vermehrt darauf ausgerich­tet werden, dass diese messbaren Mehrwert für St. Moritz und alle Bürgerinnen und Bürger generieren und das Gemeindebudget weniger belasteten. 

Die Next Generation fokussiert sich auf die Schaffung von Ganzjahresarbeitsplätzen, bezahlbarem Wohnraum und die Förderung des Tourismus. «Mit dem Bau des Wohnhauses Du Lac und dem Projekt für Wohnraum auf dem Signalareal haben der Vorstand und der Rat bereits zwei konkrete Vorhaben angesto­ssen», nennt Wenger ein konkretes Beispiel.

Martin Binkert hebt hervor, dass sich Die Mitte zum Ziel gesetzt hat, sich aktiv in den Gemeinderat einzubringen und notfalls auch gegen Mehrheitsentscheide zu argumentieren, um stets verwaltungsrechtliche Grundsätze zu vertreten. «Diese Ziele haben wir sicher erreicht», bilanziert Binkert. In der zweiten Legislaturhälfte stehen ihm zufolge wichtige Entscheide zur Eishalle auf dem Areal Islas, zur Gemeindeführung und zur Zukunft der Schule an.
Auch Isabel Wenger sieht die Zukunft der Oberstufenschule als zentrales Thema. «Die Next Generation ruft alle Parteien und Interessenvertretungen dazu auf, sich an einen Tisch zu setzen und die Zukunft zu skizzieren, statt sich der Diskussion zu verweigern», sagt sie. FDP und SVP nennen die Gesamtrevision der Ortsplanung, das neue Gemeindefüh­rungsmodell und die Eigentümerstrategien als vorrangige Themen für St. Moritz. Regional sind sich die Fraktionen einig: Die Zukunft des Spitals und des Regionalflughafens Oberengadin sind die wichtigsten Herausforderungen. Der Gemeindevorstand hat 2023 zusammen mit dem Gemeinderat strategische Legislaturziele definiert. Über den aktuellen Umsetzungsstand soll in einer der nächsten Gemeinderatssitzungen informiert werden.

Ein Interview mit Gemeindepräsident Christian Jott Jenny zur Legislatur-Halbzeit ist in der EP/PL vom Donnerstag, 13. Februar erschienen.